KUNST ENTSTEHT IM AUGENBLICK, NICHT IN DER VERGANGENHEIT…

… wenn der Augenblick mehr als nur die Gegenwart durchdringt hat er vielleicht sogar die Kraft zu verändern

GYMNASTIK MIT VORURTEILEN… UND DANN KALT ERWISCHT

Gintersdorfer|Klaßen inszenieren für das Ballet of Difference im Kölner Schauspiel

Eindrücke hierzu von Klaus Dilger

Richard Siegal ist neugierig und er getraut sich was. Dass er dabei auch auf die Unterstützung des Schauspiel Köln und der Tanzkuratorin Hanna Koller zählen kann, steht ganz im Geist des Förderprogramms „Neue Wege“ des Nordrhein-Westfälischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, unter Federführung des NRW KULTURsekretariats. Dies brachte in 2019 der Domstadt die lange vermisste Tanzsparte an die Städtischen Bühnen zurück.

Wie kaum ein anderer Choreograph in Deutschland, hat Siegal sofort und konsequent auf die Gegebenheiten der Corona bedingten Einschränkungen reagiert: Sein „NEW OCEAN“ hat er zur Installation „NEW OCEAN SEA CYCLE“ weiterentwickelt, mit „ALL FOR ONE“ schuf er seine erste, rein für den virtuellen Raum (und den Blick der Kameras) konzipierte und choreographierte Produktion. Beides Versuche, ein neues Genre im Tanz zu schaffen, bei dem der Zuschauer keine Bildschirm-Dokumentation eines Bühnenstück vorgesetzt bekommt. Und seine Versuche, live aufgeführten Tanz im virtuellen Raum erlebbar zu machen, überzeugten, auch wenn zu Beginn nicht alles sofort rund, aber immer runder lief. Und nun?

Richard Siegal wagt sich mit seinen, auf technische Virtuosität getrimmten, Tänzerinnen und Tänzern an die Zusammenarbeit mit der, wie sie sich im Auftritt selbst bezeichnet, „ Amateur-Tänzerin“ und Regisseurin Monika Gintersdorfer und dem Bildenden Künstler Knut Klaßen .

Kann das gut gehen?

„So stellt sich Lieschen Müller Tanzkunst vor…“, oder?

Dieses (Vor)Urteil mag sich in der ersten halben bis ganzen Stunde demjenigen aufdrängen, der beim „Ballet of Difference“ (BOD) virtuosen Tanz und Choreografie erwartet und Paula Rosolen’s „Aerobics!“ aus dem Jahr 2014 bis 2015 nicht kennt, mit dem sie auf der „Tanzplattform Deutschland 2016“ gezeigt hatte, dass es sich auch so überregional bekannt werden lässt. Ihr Anliegen damals: „„Ich möchte vor allem etwas in die Tanzwelt einbringen, das dort eigentlich nicht hingehört.“

gymnastik-schauspiel-koeln©knut klaßen

gymnastik-schauspiel-koeln©knut klaßen

Das mögen sich auch Gintersdorfer | Klaßen gesagt haben, als sie sich an „GYMNASTIK – Streching out to past and future dances“ gewagt haben.

Dabei beginnen sie ihre Inszenierung durchaus mit einem humorvollen Augenzwinkern, wenn sich die Tänzerinnen und Tänzer mittels Seilzügen selbst aus den hölzernen Transportkisten hieven, mit denen sonst vielleicht Museumsgüter transportiert werden: Self-Re-Enactment im Tanz könnte man das nennen.

Dem folgen Übungen, die in der täglichen Praxis am Ende eines jeden professionellen Balletttrainings stehen, abschliessendes Stretching eingeschlossen.  Hier exerziert mit wechselnden „Ballettmeister_innen“, die ansagen und vorzählen. Dabei trennt sich tanztechnisch vermeintlich schnell die „Spreu vom Weizen“, wenn die Ivorischen Tänzer mit den internationalen und interkulturellen „Ballettist_innen“ trainieren. Nicht neu als Thema bei Gintersdorfer, die dies zuletzt in einer eher durchwachsenen Performance bei „under construction“ in Wuppertal thematisierte. Dort liess sie einen ihrer Performer vortragen, „…schwarze Tänzer haben ein Hohlkreuz und können deshalb kein Ballett“, was dann auch plastisch vorgeführt wurde. Auch diese latenten Provokationen zum Rassismus gehören zum Repertoire und wurden im Stück immer wieder aufgegriffen. Es muss ihr hoch angerechnet werden, dass sie uns dies in dieser Plattheit bei GYMNASTIK ersparen wollte.

Dennoch näherte sich spätestens jetzt, nach fünfundvierzig Minuten, das Risiko weg zu zappen bei den Zuschauer_innen dem roten Bereich, was sicher nicht an den Kameraleuten  gelegen hätte, die versuchten aus dem bislang Dargebotenen visuell das Beste herauszuholen.

Gintersdorfer|Klaßen wählten für ihr Anliegen das Format einer Revue, was im Verweis auf die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts stimmig wäre. Hierbei wird auf jeden Glamour im Dekor oder Beleuchtung verzichtet. Die Bühne ist offen bis auf die Brandmauern. Technik, Regie, Kamera- und Tonleute sind gelegentlich offen sichtbar, ebenso die Tänzer_innen, die gerade auf der Bühne nicht gefragt sind. Das ist per se spannend und desillusionierend. Das birgt Potential für ein solch neues Format, wie es die Protagonisten offensichtlich anstreben und gehört zu den Pluspunkten der Inszenierung.

In der bekannten Siegal-Typografie tauchen die Namen von ehemals skandalträchtigen Tanzkünstlerinnen wie Valeska Gert, Anita Berber, Josephine Baker auf und dem, von den Nazis teilmissbrauchten Ausdruckstänzer Harald Kreutzberg. Diese Typografien umkreisen den Musikkünstler Hans Unstern, samt selbstgebauter Harfe und anderen Musikinstrumenten. All dies, einschliesslich diverser originaler Tanzpassagen aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, wird gelegentlich im Bildschnitt überlagert, ohne den Kontext des historischen Bildmaterials sinnvoll zu vertiefen oder zu erweitern.

Gintersdorfer | Klaßen GYMNASTIK@Knut Klaßen

Gintersdorfer | Klaßen GYMNASTIK@Knut Klaßen

Die Themen werden schnell transparent.

Es geht um Individualität, Genderfragen, Selbstbestimmung, Toleranz und natürlich darum, wofür die, auf postkoloniale Experimentalformate abonnierten Theatermacher bekannt sind: das Einfordern von kulturellem und unteilbaren Respekt allen Menschen und der Natur gegenüber.

So Vieles zu wollen und dabei häufig auf alterprobte Stilmittel zurück zu greifen, wie etwa das Übersetzen durch eine dritte Person auf der Bühne, funktioniert zwar immer noch, ergänzen sich aber nicht immer zum spannenden und überraschenden Ergebnis. Auf politische und historisch neue Blickwinkel und Entdeckungen werden so wohl auch die Macher_innen nicht gehofft haben, oder doch?

Ein honoriges Anliegen, aber reicht dies für Kunst?

Spannend bleibt die Frage, ob diese Produktion auch live auf der Bühne funktionieren und fesseln könnte. Spontan beantwortet: eher nicht, nur das rausgehen der Zuschauer aus dem Theatersaal, anstatt des Abschaltens ihres Bildschirms, wäre auffälliger und höherschwellig.

Den Kamera- und Tonleuten, ebenso dem Liveschnitt, kommt eine überragende Bedeutung zu. Wie hoch deren Verantwortung für die Produktion sein kann, wird vor Allem dann ersichtlich, wenn diese Aufführung mehrmals in verschiedenen Livestreams betrachtet wird. Die Rezension bezieht sich hauptsächlich auf die Premiere und nicht auf die, als schwächer empfundene zweite Aufführung, was auch am „zweiten Blick“ des Betrachters liegen mag.

Durch den massiven und sichtbaren Einsatz der Aufnahme-Technik lassen sich aktuelle Sehgewohnheiten des Publikums nutzen, um sie zu hinterfragen, wie etwa beim Auftauchen einer Tonangel, die den Protagonisten ein Mikrofon vor das Gesicht hält, damit er oder sie kundgeben und teilen darf, was das Herz bewegt oder eben nur auswendig gelernt wurde.

Das erinnert an Fussballmillionäre, die ihre Leistungen mit Worthülsen kommentieren, an Skiläuferinnen aus denen „Jo mei, I frei mi sakrisch ond griaß mei Oma“ heraussprudelt, oder eben jene Phrasen der Tänzer_innen, die zu Historischem vernetzen sollen, ohne zu überzeugen.

Ob all diese Untiefen Unvermögen darstellen oder reine Absicht der Macher_innen gewesen sein könnten, ist schwer zu beurteilen, denn alles Geplänkel durchblitzen immer wieder kluge Gedanken und Ideen und erreichen gemeinsam zumindest Eines: grosse Fallhöhe.

Denn dann kommt er doch noch, dieser Augenblick….

… dieser eine Moment, an dem ein Ruck durch Stück, Zuschauer und Protagonisten geht, an dem alle Narration und Planung endet: der Mensch der tanzt mit allem was er hat, furios, grandios, virtuos, im Einklang mit tausend Sprachen aus Natur, Schöpfung, Tierwelt.

Es ist der grosse Moment des Ivorischen Tänzers Ordinateur, ab dem alle zuvor versuchte Tanzkunst zur GYMNASTIK wird, ohne einen wirklichen Wert.

Spätestens da kommt die Frage auf: War das alles: „so stellt sich Lieschen Müller Tanzkunst vor“?

Oder doch: „So stellt sich Lieschen Müller Gintersdorfer | Klaßen vor, wenn sie sich mit Tanzkunst beschäftigen“?

Das muss jeder für sich selbst beantworten. Die nächste Gelegenheit hierzu gibt es am 18. und 26.März jeweils online um 19:30 Uhr und an weiteren Terminen im April.

Gintersdorfer/Klaßen und das Ballet of Difference am Schauspiel Köln

Mit: Diovanni Da Silva Cabral, Martina Chavez, Jemima Rose Dean, Mason Manning, Andrea Mocciardini, Margarida Isabel De Abreu Neto, Long Zou, Ordinateur, Annick Prisca Agbadou / Alaingo, Hans Unstern

Choreografie, Bühne, Licht: Gintersdorfer / Klaßen – Kostüme: Knut Klaßen, Marc Aschenbrenner – Musik: Hans Unstern – Ballettmeisterin: Zuzana Zahradníkova – Bühnenbildassistenz: Jessica Rosa – Kostümassistenz: Melina Jusczyk – Inspizienz: Charlotte Bischoff

gymnastik-schauspiel-koeln©knut klaßen

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