„Letters to a grandfather“

Tanztheater-Performance von und mit Josephine Patzelt

Von KLAUS KEIL

(Besprechung der Live gesehenen Generalprobe)

Online noch 12./13.06.2021

Nach dem Historiker-Streit der 1980er-Jahre über die „Singularität des Holocaust“ ziehen, angefacht von der veränderten politischen Lage (siehe Gaulands Fliegenschiß), wieder dunkle Historiker-Wolken übers Land, die den Nationalsozialismus auf einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte reduzieren wollen (Der Spiegel, Nr.23). Mit dabei Hedwig Richter, geb. 1973, Professorin an der Bundeswehr-Uni in München, die ein „einseitiges Verständnis unserer Vergangenheit“ beklagt (ebd.).

Kein Verständnis für diese Geschichtsklitterung hat das Duo Josefine Patzelt (Choreografie/Tanz) und Lenah Flaig (Dramaturgische Begleitung), das die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eines Großvaters und seinem Schweigen darüber zum Thema einer eminent politischen Tanztheater-Performance gemacht hat.

Wie selten in einer Inszenierung spürt man in diesem Stück die persönliche Betroffenheit. Eine Betroffenheit, die dieses Stück überzeugend und thematisch glaubwürdig macht. Ganz unspektakulär und unaufgeregt beginnt die gut einstündige Solo-Performance, die Konflikt, Kampf und Kontroverse erwarten lässt.

Doch die Dissonanz der Thematik liegt in der Eingangs-Sequenz vorerst in einer Soundcollage verzerrter Musikfetzen, die von Tonbändern zu kommen scheinen. Symbolhaft mittendrin in einem Bandsalat alter Tonschnipsel hockt die Protagonistin. Nur noch Erinnerungswert scheinen diese Schnipsel zu haben und sich kaum wieder zu einem harmonischen Ganzen fügen lassen. Wie hingeworfen beginnt Josefine Patzelt liegend mit einem Solo, fragt „Was ist geblieben…“ und… „Es hätte nicht geschehen dürfen…“. Während ihrer Performance artikuliert sie immer wieder das Sagbare und Unsagbare durch Sprache, und natürlich durch den Tanz.

Josephine-Patzelt@Letter-to-my-Grandfather

Josephine-Patzelt@Letter-to-my-Grandfather

Ihre Bewegungen formen einen gequälten Körper. Als sei ihr der eigene Körper unangenehm sitzt sie mit dem Rücken zum Publikum. Wie fragend streckt sie dabei ihre Arme zum Publikum. Stille.

Sie reibt sich kraftvoll mit beiden Händen ihre Oberschenkel, als wolle sie sich von etwas befreien. Es ist ein Kampf, den sie immer wieder in vielfältigen Bewegungsformen mit sich selbst zu führen scheint. In wildem Tanz durchschüttelt sie den ganzen Körper, als würden die unbewältigten Erinnerungen dabei abfallen. Im Tanz ist ihr der Boden ein imaginärer Partner, dem sie sich anvertraut. Er gibt ihr Halt, treibt sie voran, fängt sie auf, auch wenn ihre offenen Fragen dabei ins Leere gehen.

Als wolle die Dramaturgie der Tänzerin als auch dem Publikum etwas Erholung von diesem so packenden ersten Teil gönnen, werden in einem zweiten Teil kurze filmische Statements von Frauen und Männern über Projektion eingeblendet. Es ist ein wichtiger Teil der Performance, denn er richtet den Fokus auf die eigene Betroffenheit, die Diversität der Menschen und ihrer Meinungen.

Ein besonderer Höhepunkt im dritten Teil ist der Monolog der Protagonistin, von dem sie sich sicherlich wünschte, es wäre ein Dialog mit Opa. War er ein „Kriegstäter“ oder trägt er seine Bügelfaltenhose zu Recht? Dann aber könnte er sein Schweigen doch brechen? Wie oft machen wir uns durch Schweigen schuldig?

Josephine-Patzelt@Letter-to-my-Grandfather

Josephine-Patzelt@Letter-to-my-Grandfather

Der tänzerische Monolog mit dem Opa-Sessel, davor das Kaffee-Gedeck ist bewegend und faszinierend zugleich. Es ist der Platz, der üblicherweise Sicherheit und Geborgenheit symbolisiert.

Kopfüber taucht die Tänzerin in diesen Platz der Geborgenheit ein – und wird enttäuscht. Josefine Platzelts Solo mit Sessel ist ein großartiger emotionaler Höhepunkt. Mal hat sie ein Bein über der Lehne, mal liegt sie über beide Lehnen gestreckt, mal erklimmt sie ihn wie eine Bergsteigerin, dann rutscht sie ihn hinab. Es ist ein Tanz des Aufbegehrens nach langer Auseinandersetzung, vielleicht auch ein Moment der Erkenntnis, es nie zu erfahren.

Wie sagen es Josefine Patzelt und Lenah Flaig: „Letters to a grandfather“ ist ein Brief unserer Generation an eine Vergangenheit, die wie ein Nebel unseren Horizont verschleiert.

Diese Tanztheater-Performance „Letters to a Grandfather“ ist außergewöhnlich, ist tänzerisch großartig, ist theatral perfekt und vor allem inhaltlich überzeugend. Das Stück ist ein Solo, das von der tänzerischen und theatralen Präsenz von Josefine Patzelt lebt.

Josephine-Patzelt@Letter-to-my-Grandfather

Josephine-Patzelt@Letter-to-my-Grandfather