©TANZweb.org – Zuschauer werden für neues Sehen sensibilisiert

Offline vibrations

Von Klaus Keil

Mit einer glanzvollen Aufführung von „OFFline“ ging gestern Abend das Bonner Tanzfestival. „Into the Fields“ zu Ende. Das Künstlerkollektiv OFFprojects, in dem sich die beiden Tänzerinnen Aurélia Cayla und Milena Twiehaus mit dem israelischen Tänzer-Choreografen Amos Ben-Tal und dem Dramaturgen Yvan Dubreuil zusammen geschlossen haben, zeigte im Theater im Ballsaal die letzte Version eines Tanzstückes, das mehr einer Tanz-Installation nahekam und letztlich die Frage aufwarf, ob es sich dabei um eine durch choreografierte Inszenierung oder ein ganz außergewöhnliches Improvisationsstück handelte.

Sie sind allesamt hervorragende klassisch-neoklassische TänzerInnen, die jedoch diese Stilistik zunehmend als „Last“ empfanden und nach neuen tänzerisch-choreografischen Herausforderungen suchten. Doch was bewegt drei außergewöhnliche TänzerInnen, ihre langjährigen Engagements an führenden europäischen Tanz-Compagnien wie dem Nederlands Dans Theater aufzugeben und sich auf den unberechenbaren Markt der freien Tanzszene zu begeben? Wer ihren Tanzabend „OFFline“ gesehen hat, braucht nicht mehr nach einer Antwort suchen.

Rhetorisch geschickt stimmt Amos Ben-Tal das Publikum auf den Abend ein, erläutert, dass das „was man heute sieht, so noch nicht gesehen hat und es so auch nicht wieder sehen wird“. Ein Stück also, dessen Einzigartigkeit in seinem Status als sich ständig veränderndes „work in progress“ liegt. Bereits die erste Version dieses Stückes war 2012 zum letzten Into-the-Field-Festival eingeladen. Das Publikum, rund um die Tanzfläche platziert, war wieder aufgefordert, mit Fragen zu Form und Inhalt aktiv in die weitere Entwicklung des Stückes einzugreifen. Nach anfänglichem Zögern wurde davon intensiv Gebrauch gemacht. Solchermaßen in ein „sinnliches Gesamterlebnis“ einbezogen zu werden, goutierten die Zuschauer dann auch mit lang anhaltenden, geradezu enthusiastischen Beifall.

Amos Ben-Tals Ankündigung, dass vor ihren Augen gleich eine Choreografie entstehen werde, die bisher noch nicht existiere, hatte die Spannung im Raum gleich zum Start fühlbar gesteigert. Für den sich entwickelnden choreografischen Prozess war das in mehrfacher Hinsicht wichtig. Zeuge eines  einzigartigen Momentes zu werden, setzt positive Energie frei und öffnet für interaktive Prozesse. Die Sitzordnung umschließt die freigesetzte Energie wie ein hermetischer Ring und hält sie im Raum. Diese Energie nahmen die Tänzer auf. Sie wurde konstituierendes Moment der Inszenierung und ermöglichte vibration – ein ebenfalls von Ben-Tal eingebrachter Begriff. Damit war der Rahmen für den folgenden offenen Prozess choreografischer Entwicklung gesetzt.

Den Zuschauer in diesen Prozess mit einzubeziehen, mag als theoretischer Anspruch nicht neu sein. Aber ihn praktisch mit einzubeziehen ohne ihn zu überfordern, gelingt nur wenigen. Nicht nur den Körper, sondern mehr noch die Intuition spricht Ben-Tal in einer kleinen vorbereitenden Übung mit den Zuschauern an. In völliger Dunkelheit werden sie aufgefordert, die Distanz zwischen Nase und Knie, zwischen Knie und Herz zu erspüren. Später wird Ben-Tal noch den weiblichen und den darauf abgestimmten männlichen Code tänzerischer Sequenzen preisgeben und das Publikum damit unmerklich zu künstlerischen Komplizen machen. Eine Rolle, die augenscheinlich gern übernommen wurde.

Auf der Bühne weicht das Dunkel. Im diffusen Licht tanzt Ben-Tal einige Schrittfolgen, unverkennbar zeitgenössisch, doch völlig offen in seiner individuellen Gestaltung. Elektronischer Sound kommt dazu und auch die beiden Tänzerinnen nähern sich ihm, greifen die Bewegungen auf, übernehmen sie. Die tänzerischen Kommunikationspartner wechseln. In der Mitte der Bühne steht ein Medienturm mit einem Mischpult für Sound und Licht, das abwechselnd von allen bedient wird. Sie setzen Licht in einem Teilbereich der Bühne, ziehen den anderen in diesen open space, um die bisherigen Bewegungsphrasen dort zu erweitern und zu ergänzen. Die Musik wird härter, die Bewegungsfolgen schneller, fordernder. Die Live-Gitarre von Dyzack (auffallend auch mit markanten Songs) wird vom Elektronik-Sound verstärkt – musikalische vibration ergänzt die tänzerischen Schwingungen.

Es ist ein wunderbares, fortwährendes Spiel tänzerischer Anziehung und Abstoßung, wobei sich die jeweilige Bewegung des/der Hinzukommenden erst aus dem Moment der Begegnung selbst ergibt. Das führt manchmal zu kleinen synchronen Schrittfolgen, die gleich wieder aufgelöst werden. Und immer ergibt sich ein offener tänzerischer Dialog, den jeder durch Lichtsetzung und Soundwechsel selbst auslösen oder beenden kann. Ihre dynamische Bewegungssprache steckt voll purer Energie, die zu jedem Zeitpunkt abgerufen werden kann, aber gelegentlich auch zu unerwarteten choreografischen Momenten führt, in denen eine neue Ausrichtung erforderlich wird. So wie bei der klassischen Kontaktimprovisation (nach Steve Paxton) die Berührung zum Ausgangspunkt der Bewegung wird, so scheint das Bewegungsverhalten in der Tanzsprache von OFFprojects ohne direkten Körperkontakt allein von der intuitiven Einstellung auf den Bewegungsrhythmus des/der Anderen geleitet zu werden. Dass dabei ein ganz eigenes Bewegungsrepertoire heranwächst, wird in OFFline sichtbar. Die gelöste Stimmung nach dem Stück zeigte, dass der Energiefluss in alle Richtungen funktioniert hat.