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Hin und weg schauen
Mit „Jewrope“ wagt sich Bodytalk an einen roten Faden der deutsch-europäischen Geschichte. Kann das gut gehen? Nein. Wie auch

Der Anfang ist ganz still. Die Zuschauer in der Tanzfaktur schauen auf Koffer. Die knautschige alte Sorte. Sie stehen in Reihen, die etwas schräg die Bühne füllen. Koffer waren mal ganz große Mode im Tanztheater, als Requisit unschlagbar im Preis, in der Handhabbarkeit und in der deutlichen Symbolik: Jaja, das Reisen mit seinen Versprechungen oder dem Schrecken der erzwungenen Wanderschaft. Aber Bodytalk säuseln nicht melancholisch. Die Koffer haben plötzlich ein Muster, etwas Kantiges, dann erkennt man in der Projektion die Stelen des sogenannten Holocaust-Mahnmals in Berlin. Auf der Bühnenrückwand erscheint das gesamte Bild, in das sich ein grünes Bäumchen reckt und in das eine Schlaufe Stacheldraht ragt.

Am Ende wird „Jewrope“ noch sehr laut und wüst, und die Bühne ist mit Milch versaut, so dass ihre Glitschigkeit, will man in dem Spritzen, Toben, Prusten, Spucken und Schlittern der fast nackigen Tänzerschar einen Sinn sehen, das vorhersehbare Scheitern am Thema repräsentiert. Alles begann aber mit dem Säubern: einem Staubsauger. Ein Mann reinigt gelangweilt die Kofferstelenreihen, schiebt den Saugkopf vor sich her, es brummt. Mack Kubicki brummt unter einem schwarzen Tuch hinter ihm her. Ein Witz. Was hat noch der unsterbliche George Tabori über Auschwitz gesagt?

Die Kunst ist frei. „Jewrope“ versucht sich am Schwierigsten, vertut sich auch, geht auch baden, aber senkt den Kopf nicht. Es geht um Würde, um Menschlichkeit. Das Köln-Bonner Ensemble von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart hat diese Produktion gemeinsam mit Ewa Wycichowskas renommiertem Polski Teatr Tańca aus Posen gestemmt. Immerhin neun Tänzer bringen sie auf die Bühne der TanzFaktur in Köln-Deutz und mischen die Stile.

Lebenlustig tanzen sie, hüpfen in polnisch-folkloristischer Manier zur entsprechenden Musik Arm in Arm über die Bühne, die Damen knien dabei kurz auf den Oberschenkeln der Herren, die Beine, Arme und Röcke fliegen. Sie wirbeln und springen, geben akrobatische Einlagen. Diesen Leichtsinn braucht ein schweres Stück schon auch, denkt man, dazu gibt es aus der Konserve evergreene Lieder aus dem Musical „Tewje, der Milchmann“ darüber, wie schnell die Zeit vergeht und was  wäre, „wenn ich ein reicher Mann wär’“, am Bühnenrand mit Live-Schlagzeug und -Gitarre begleitet von Damian Pielka. Doch die Lustigkeit ist auch doppelbödig; denn klischeehaftes Klezmergefiedel als Filmsoundtrack zu jeglichem jüdischem Thema und zur Gewohnheit gewordene Holocaust-Folklore ist kritikwürdig.

Nicht jedoch die sogenannten Zeitzeugen. Die hier per Film eingeblendete alte Dame Margot Friedländer möchte den Begriff allerdings lieber auf die heutigen jungen Leute anwenden. Sie spricht davon, dass sie wirklich nicht verstehen könne, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können, „unser Blut ist doch wie Eures“, zitiert sie ungenannt den „Kaufmann von Venedig“. Dass sie jüdisch sei, „das ist privat“. „Verzeihen?“, fragt sie sich mehrmals, „das kann ich nicht“. Eine polnische Tänzerin spricht auf der Bühne über ihre angebliche Großmutter, vielleicht im Alter von Frau Friedländer, die habe als kleines Mädchen, „als die Nazipolizei an die Tür klopfte“, nur einen Hammer mitgenommen; und sie klopft sich damit an die eigenen Knochen. Ein leises, starkes peinigendes Bild und unausgesprochener Hinweis auf den berühmten Protestsong vom Hammer und vom Lied der Liebe „between my brothers and my sisters, All over this land“.

Auch die kleine, langsame Prozession der Tänzer, die liebevoll Stacheldrahtgebilde in den Armen tragen wie die Erinnerungen oder zerstörte Träume; die Tänzer, die mit nackten Rücken knien und sich einen Stein auf den Nacken legen wie auf die Gräber in jüdischen Friedhöfen – da findet Bodytalk eine bittere Schönheit. Sie währt nie lang. Wenn der nackte Mack Kubicki mit Leidensmiene zwischen zwei Stacheldrahtseile gespannt wird und sie straff halten muss oder jede Richtung an ihm zieht, zitiert das grelle Bild zwar den „Jew-rope“-Titel, führt aber zu nichts. Ein  kleiner rauchender Schornstein tut dem Auge weh, doch vielleicht braucht es ihn, um den Einsatz des poppigen „Fly, Robin, Fly“ zu verstehen als Übersetzung von „wir schaufeln ein Grab in den Lüften“, wie Paul Celan in seiner Todesfuge schrieb. Dieser entstammt auch die Idee mit der Milch. Bei ihm ist sie schwarz.

„Jewrope“ erklärt sich also nicht, nicht allzu leicht jedenfalls. Das ist seine Stärke. Unpädagogisch zu sein, aber auch nicht naiv. Auch wenn es Naivität bewusst mit einbaut, was ganz fragwürdige Resultate bringt: Eine Tänzerin als Agitatorin ruft zum Mord an Wladimir Putin auf, dann wäre die Welt besser. Brüllend empört sich eine Darstellerin nicht über das Niedertreten eines Mannes, sondern über die Zigarette in Kubickis Mund. Das Töten zweier Pandabären würde Juden retten, wird verkündet, wobei Teil eins der absurden Rechnung theatralisch gleich mal ausgeführt wird. Diese Bärchen, „eine vom Aussterben bedrohte Minderheit“, tappen und tänzeln putzig auch durch die letzte Filmeinspielung mit einer Passantenbefragung. Um den industriellen Massenmord an Menschen zu „relativieren“, sind diese Beispiele aus heutiger Zeit zu blöd, zu klein. Aber sie weisen auf Muster solcher Argumentationen hin, die heutzutage immer noch oder sogar zunehmend üblich sind: „ja, aber“.

Insofern ist „Jewrope“ doch nicht gescheitert. Doch muss ein Tanztheater über die Shoah überhaupt sein? Nein. Aber. Umgekehrt: Die Bühnenkunst soll vor solchen Themen nicht kuschen.