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Alles fließt.  Aber wohin?
Das FLOW DANCE FESTIVAL endet mit der Uraufführung von „Exuvie“ des französischen Ensembles Sine qua non in Köln
von Melanie Suchy

Solch einen heftigen und langen Applaus hat man selten in der Wachsfabrik / Barnes Crossing bei Aufführungen gehört. Kurz bevor das FLOW-Dance-Festival seinen diesjährigen Veranstaltungsfluss stoppt, konnte es noch eine Premiere präsentieren, ein Stück, das sich sogar der Flüssigkeit widmet. Einer bestimmten Flüssigkeit: Wachs.
Wandelbar ist es als Material. Der Titel der Choreografie, „Exuvie“, spricht von Hülle oder Haut. Doch immer scheint hier auch das mitgemeint, was von einer Hülle bedeckt, umfasst, umschlossen wird. Innen und Außen, samt den Vorgängen des Hinein und Hinaus und Drumherum. Das flüssige Paraffin wird aus geheizten Bottichen in ein niedriges, quadratisches, mit schwarzer Folie ausgekleidetes Bassin auf der Bühne geschüttet. Wie Wasser. Bald bildet sich an der Oberfläche eine zarte weiße Schicht. Die Erstarrung geschieht sehr langsam. Nach einer Weile sieht es wie Eis aus, vermischt mit Schnee; es könnte, mit etwas Fantasie, ein See sein oder ein Stück arktisches Meer. Dieser Landschaft setzen sich die beiden französischen Tänzer und Choreographen Christophe Béranger und Jonathan Pranlas-Descours (alias „sine qua non art“) nun aus. Erst prüfen sie sie mit streichelnden Händen, dann betreten sie sie mit langsamen, steifen und schleifenden Schritten in Lederstiefeln. „Freeze“ ist ein altbekannter Begriff aus dem Theater, der das „Einfrieren“, Stoppen einer Bewegung meint. Wenn der anfängliche langsame Tanzfluss der beiden Männer manchmal innehält, dann wirkt das nicht wie Schnitt und Ende, sondern es entsteht der Eindruck von Weite, die Vorstellung eines Fließens in die Unendlichkeit. Paradox.

Daran merkt man, dass hier hervorragende Tänzer am Werk sind. Später werden sie sich der zähflüssigen Materie buchstäblich unterwerfen und unter sie wie unter eine dicke Haut kriechen. So ist ihr „Exuvie“ eine durchdachte und auch sehr sinnliche Performance. Das Wachs entzieht sich der totalen Kontrolle, es ist glitschig, es erstarrt schneller oder langsamer je nach Umgebungstemperatur, es dehnt sich oder zerreißt, wenn man an ihm zieht. Das verleiht ihm eine seltsam halbe Lebendigkeit, die den Menschen zu einer Art Kommunikation mit ihm verleitet oder zwingt. Eine solche Abstimmung praktizieren die beiden Tänzer auch untereinander und mit dem Raum.

Der ist schwarz wie eine Höhle. Die Rückseite der in der Breite bespielten Bühne hat die Künstlerin Laurianne Seux mit schwarzer Folie abgehängt, etwas schräg wie ein Zelt. Sie spiegelt matt und unwirklich klein das Geschehen wieder: die beiden hell gekleideten Tänzer, das hölzerne Karree, das weiß werdende Paraffin. Die Musiker Yohan Landry und Damien Skoracki sitzen zu beiden Seiten weiter draußen an ihren verkabelten Elektro-Gitarren und Synthesizern und füllen das Höhleninnere mit halligen Tönen, die einen riesigen Raum suggerieren. Später entwickelt sich ein Beat, schnelle tiefe Schläge wie von einem unruhigen Herzen, und ein schrilles Scheppern, das langsam auf und abschwillt, den Boden vibrieren macht und die Zuschauer unangenehm bedrängt. Vielleicht ist es gedacht als eine andere Form des totalen Umhüllens oder auch Eindringens. Der Lärm will zu der visuell sehr eindrücklichen, fein komponierten Szenerie nicht recht passen.

Pranlas-Descours und Bérenger tanzen, als seien auch ihre Körper aus Material, das mal flüssiger, mal fester wogt und schwappt. Sie geben auch der Veränderung dieser Aggregatzustände viel Zeit. Wie dem Wachs eben auch. Doch nie wird ihr Tanz ein naives Blubbern, sondern bleibt mit dem Beugen und Rotieren, dem Auf und Ab und Krümmen und Strecken in einem Zwischenbereich: Form und Verschwinden. Halten und Verflüssigen. So wird, pathetisch gesagt, das Wachs zur Metapher für Tanz.

Etwas Pathos ist „Exuvie“ denn auch eigen. Wie die Tänzer das Holzkarree mit schwerer schwarzer Folie auslegen, die sie mit großer Geste entfalten und an der niedrigen Umrandung sorgfältig andrücken. Eine Zeremonie. Wie sie sich später bis auf den Slip entkleiden, wenn später das Wachs zur zähen Schicht oder Haut geworden ist. Das hat praktische Gründe, sieht aber demütig aus. Sie kauern und liegen außen an der Umrandung der Wachswelt und schieben unter das weiße Zeug erst ihre Finger, dann einen Unterarm, dann beide. Ganz vorsichtig, tastend, schiebend, damit es nachgibt, Raum macht, die andere Haut einlässt. Eine Penetration. Wenn den Armen dann der Kopf folgt, scheint der Traum von der Rückkehr in den Mutterleib wahr zu werden. Die Langsamkeit macht für den Zuschauer das Fühlen von Haut an Haut spürbar. Die Hingabe. Ein melancholisch-lustvolles Verschwinden, Untertauchen.

Doch die Männer sind zu groß, sie können ihre Körper nur zu einem bestimmten Grad anpassen, aber nicht platt machen oder auflösen. Deshalb reißt die Wachsschicht hier und da. Erheben die Tänzer sich, gibt sie nach, zieht sie mit; dann hängt die weiße Haut ihnen in riesigen Fetzen an den Leibern. Ein Bild schmerzhafter Vergeblichkeit. Auch der Horror von Hiroshima kommt einem in den Sinn. Die zwei Menschenfiguren hier sterben nicht, sondern werfen schließlich das schwere Wachs klatschend auf den Boden. Sie entzaubern es. In die schwarze Folie eingerollt, wird es nun seinerseits verhüllt und verborgen. Die Männer aber wirken wie freigelassen, sie wirbeln, taumeln, flitschen feurig-luftig, dann trennen sich ihre Wege.

Info
„Exuvie“ basiert auf einem zweimonatigen Aufenthalt der beiden Tänzer in Köln im vorigen Jahr. Die vom Kultursekretariat Wuppertal ausgelobte „Tanzrecherche NRW“ gab ihnen Zeit und Mittel, um an der Idee mit dem Wachs, den Körpern, dem Raum herumzuprobieren und vor allem auch, das Material bei einer Firma in der Region zu finden.

Weitere Aufführungstermine in Planung, fest stehen schon:
Heute, 28.Juni 2014, Barnes Crossing Wachsfabrik, Beginn 20 Uhr;
3. und 4. Oktober 2014, Metz, Centre Pompidou
17. und 18. Februar 2015, La Rochelle, La Coursive – Scène Nationale de La Rochelle.