©TANZweb_Klaus Dilger – T.R.A.S.H. mit MILK II – Lucie Petrusová

 

NACHTKRITIK ZUR ERÖFFNUNG DES 5. INTERNATIONALEN SOLO TANZFESTIVALS BONN MIT ZWEI GEGENSÄTZLICHEN PRODUKTIONEN:

WIE SICH FRAUEN NEU ERSCHAFFEN

Schöpfungsmythen der Populärkultur und das ebenso entschlossene wie humorvolle Spiel mit weiblichen Rollenbildern markieren die Eröffnung des 5. Internationalen Bonner Tanzsolofestivals.

 

von
Thomas Linden

HIER GEHT ES ZUM VIDEOTRAILER VON „W MEMORABILIA“ VON ROOTLESSROOT

HIER GEHT ES ZUM VIDEOTRAILER VON „MILK II“ VON T.R.A.S.H.

T.R.A.S.H. MIT „MILK II“

Eine Frau hängt von der Decke über einem Tisch. Auf dem Boden weiße Federn, als sei eben noch eine Taube geschlachtet worden. Ein paar Momente nur und schon ist die Frau auf den Tisch gefallen und es setzt ein Drama der Wiederbelebung ein, das sich über fast eine Stunde fortsetzt.

Gleich mit der ersten Produktion „Milk II“ des niederländischen Kollektivs T.r.a.s.h. wird das unterste zu oberst gekehrt auf dem Internationalen Bonner Tanzsolofestival. Wir wohnen einer widerspenstigen Menschwerdung bei. Choreographin Kristel van Issum und die fulminant agierende Lucie Petrusová  zeigen uns eine Kreuzung aus „Dr. Jekell & Mr. Hyde“, dem „Exorzisten“, wüsten Slapstick-Einlagen und trügerisch süßen Passagen des sterbenden Schwans, Eine Frau entsteht, allerdings stockend und rebellisch.

©TANZweb_Klaus Dilger – T.R.A.S.H. mit MILK II – Lucie Petrusová


©TANZweb_Klaus Dilger – T.R.A.S.H. mit MILK II – Lucie Petrusová

Ein Spektrum voller Widersprüche, das die Frau im altmodischen Kleid mit Rüschenborte und rotem Spitzenhöschen zu zerreißen droht. Eben noch bietet sie sich verführerisch auf dem Tisch an, dann setzt unvermittelt ein Toben und Lamentieren ein. Hier langsame, behutsame Bewegungen mit dem Blick über die Schulter zum betrachtenden Auge, und dort ein weiblicher Körper der vom Tisch immer wieder krachend auf dem Tanzboden aufschlägt. Wie kommt man aus der eigenen Haut heraus?

Ein altes Thema des Tanzes, der verzweifelte Versuch, die Fesseln des Körpers abzustreifen und die Erkenntnis des ohnmächtigen Scheiterns. Van Issum und Petrusová verdoppeln dieses Drama noch, in dem sie den Fesseln des Körpers auch noch die der weiblichen Sozialisation hinzufügen. Beide sollen aufgebrochen werden, aber so einfach ist das nicht. Was sich da vor den Augen des Bonner Publikums am Eröffnungsabend ereignete, stellte eine tänzerische Tour de Force dar. Wie eine hilflose Puppe wird die Frau auf dem Tisch gewaltsam in Besitz genommen. Eine Art Dämon scheint immer dann, wenn sich die Segel einmal geglättet haben aus ihr heraus zu schlüpfen und ihren Körper heimzusuchen. Lucie Petrusová stellt auch gleich mehrere Gestalten dar, und sie macht das mit viel schauspielerischem Einsatz und schelmischem Humor. Von zart bis grausig begleitet ihr Gesicht beständig die Ereignisse über und unter dem Tisch.

©TANZweb_Klaus Dilger – T.R.A.S.H. mit MILK II – Lucie Petrusová

©TANZweb_Klaus Dilger – T.R.A.S.H. mit MILK II – Lucie Petrusová

Es ist eine Explosion der Energie, die sich hier entlädt, und es ist nicht die letzte an diesem Abend. T.r.a.s.h. agiert mit Bildern und Szenen, die narrativ angelegt sind, man kann dem Geschehen trotz seiner enormen Expressivität folgen, auch deshalb, weil es Tanztheater ist, das Bilder und Themen der Populärkultur zitiert.

©TANZweb_Klaus Dilger – RootlessRoot:  Linda Kapetanea  „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“

©TANZweb_Klaus Dilger – RootlessRoot:  Linda Kapetanea  „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“

ROOTLESS ROOT MIT „W MEMORABILIA“

Bei Linda Kapetanea sieht das anders aus. Sie kommt zum Festival mit der Produktion „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“, die in der Zusammenarbeit mit Jozef Frucek entstand. Beide sind ein Stück ihres künstlerischen Weges mit Wim Vandekeybus und dessen Ensemble Ultima Vez gegangen. Auch hier berstende Energie, aber nicht erzählend, sondern als eine Art Performance angelegt, die zwischen Tanz, Musik und Malerei angesiedelt ist.

Die Mythen um Phaedra und Medea müssen erst noch in der Werkstatt entwickelt werden. Aber dazu kommt es hier nicht. Wir sehen, wie Linda Kapetanea eine Art Schweinskopf-Skulptur rot anmalt, in sie hineinsticht bis das Kunstblut fließt. An einem großen Relief macht sie sich zu schaffen, bis der Putz buchstäblich von der Wand bröselt. Ein großes, schwarzes Dreieck, offenbar ein Zeichen der Weiblichkeit, wird angepinselt.

©TANZweb_Klaus Dilger – RootlessRoot:  Linda Kapetanea  „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“

©TANZweb_Klaus Dilger – RootlessRoot:  Linda Kapetanea  „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“

Letztlich bleiben all diese Aktionen selbstreferenziell. Wofür braucht Linda Kapetanea Publikum? Jemand muss ihr zuschauen, während sie auf große Tafeln malt oder mit dem Hammer auf sie eindrischt. Kraftvoll ist diese Aktion zweifellos und realisiert wird sie mit fieberhaftem Eifer. Allerdings bleiben die Inhalte auch in der Werkstatt der Künstlerin. Aber Kapetanea und Frucek betonen ja auch, dass sie nicht verstanden werden wollen, sondern durch physische Kraft verstören und irritieren möchten. Das ist ihnen ohne jeden Zweifel gelungen.

©TANZweb_Klaus Dilger – RootlessRoot:  Linda Kapetanea  „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“

©TANZweb_Klaus Dilger – RootlessRoot:  Linda Kapetanea  „W Memorabilia (Phaedra’s Laboratory)“

Für das Festival bedeutete diese Doppelveranstaltung in Brotfabrik und Theater im Ballsaal eine starke Eröffnung mit anspruchsvollen Produktionen, die vor allem von T.r.a.s.h. wuchtige Tanzkunst boten.