photo: Thomas Brill

Redebeitrag Klaus Dilger – (Choreograph und Filmemacher – Leitung tanZbüroköln):
Die Streichung des Gastspieletats – tabula rasa-Politik auch für die freie Tanzszene?
Anlässlich der Protestveranstaltung in Köln, EXPO XXI, am 14.April 2013

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Pit Bach,

haben Sie herzlichen Dank für die Gelegenheit heute vor Ihnen sprechen zu dürfen.
Zu Beginn der neunziger Jahre begann eine der grössten kulturellen Revolutionen der Neuzeit durch die Erschaffung virtueller Realitäten und den Zugang hierzu mit Hilfe des WorldWideWeb. Unsere gesellschaftliche und individuelle Realität haben sich gravierend verändert. Im Rahmen einer virtuellen, weltweiten Informationsgesellschaft, in der wir uns frei und grenzenlos bewegen und in der wir nach Belieben Identitäten annehmen und wieder ablegen können, in der wir uns austauschen und einbringen können, in der wir eine wirkliche oder scheinbare globale Relevanz erfahren dürfen, bekommt die Frage nach unserem Sein und unserer Identität, die über die bloße Existenz hinausgeht eine neue Bedeutung. Dies erfordert auch einen künstlerischen Diskurs.

WARUM TANZEN WIR?
Der Tanz hat vermutlich eine weitaus wichtigere Bedeutung in unserem Leben und durchdringt weitaus mehr Bereiche als sich Viele von uns bewusst sind. Wir tanzen um zu vergessen und um zu finden/entdecken was wir sind.
Choreographie und Tanz als Kunstform gestalten und überwinden bewusst und mit intuitiver Intelligenz Raum und Zeit mittels Bewegung, Energie, Körper und Licht (Alle Bilder sind Licht) und sie erschaffen gleichzeitig ein Zeichensystem jenseits mathematischer und linguistischer Logik das unsere Sinne als Sprache begreifen können.

WIE TEILEN/KOMMUNIZIEREN WIR TANZ?
Mit Hilfe modernster Highspeed Kameras und neuester Hirnforschung können wir nachweisen, was uns bisher nur intuitiv und aus Erfahrung heraus bewusst war: wir erleben Tanz und Bewegungssprache äußerst realistisch am eigenen Körper auch wenn wir nur Zuschauer sind. Dort wo Zeit, Raum und Gravität (auch mittels großartiger Körpertechnik) scheinbar überwunden und Geist werden, helfen uns die Reize von Spiegelneuronen und unsere Empathiefähigkeit, diese Reise miterleben zu können.
So gesehen sind wir alle Tänzer aber nur wenige bringen uns so zum „Tanzen“, dass wir uns der Möglichkeiten unseres Lebens bewusst werden, die über die bloße Existenz hinausgehen.

Aus „Rehorsals – getting Horses used to Dance“ – 1st prize „Choreographic Captures 2011 – Ch.: Nathalie Larquet –

DIE ENTDECKUNG DES SALZES
Der römische Schriftgelehrte Cassiodorus schrieb vor über 1500 Jahren: „Der Mensch kann ohne Gold, aber nicht ohne Salz leben.“ Heute wissen wir, dass unser Körper, wenn er gesund ist, in seinen Flüssigkeiten die gleiche Salzkonzentration aufweist wie die Weltmeere, denen wir einst entstiegen sind. Der Besitz von Salz war über lange Zeit hinweg gleichbedeutend mit Zahlungsmittel. Das Wort Sold bedeutet eigentlich „Ration an Salz“ und findet noch heute Anwendung bis hin zu scheidenden Bundespräsidenten. Die Kontrolle über das Salz bedeutete Reichtum und Macht. Das „weiße Gold“ schuf vor allem im frühen Mittelalter florierende Städte die teils heute noch Weltbedeutung haben und beflügelte den internationalen Fernhandel. Es ist ein Stoff, der die Welt veränderte obwohl er Meere füllt und auf der Erde im Überfluss vorhanden ist.
Trifft dies nicht auch für den Tanz zu? Die Vision, dass ein scheidender Bundespräsident in naher Zukunft anstatt mit einem Ehren SOLD mit einem Ehren TANZ verabschiedet wird, erscheint mir reizvoll.
Noch kostbarer als Salz waren und sind die Gewürze, die aus Indien und der östlichen Welt im frühen Mittelalter nach dem europäischen Festland gelangten. Deren sinnliche „Explosionen“ die durch die Geschmacksorgane ausgelöst wurden, kündeten von exotischen Orten, Abenteuer und Sinnlichkeit. Orte, die sich dem Hier und Jetzt entzogen – NICHTORTE (auf Zeit),  in Verbindung mit einem wünschenswerten Zustand. Lautet so nicht die Bedeutung von UTOPIA?  – und – WAS IST TANZ?

Biennale Danza di Venezia 2012 – Visuals for „Strategies of the Imperceptible“ – Nathalie Larquet – My Lovely White Dog

UTOPIA IN KÖLN
Oscar Wilde schrieb einmal: eine Landkarte, auf der ein UTOPIA fehle, sei für ihn ein wertloses Stück Papier. Trifft dies nicht auch auf Städte zu? Wurden denn in Köln nicht alle Brücken zu „Utopia“ eingerissen, als in den neunziger Jahren das weltberühmte TanzForum Köln zerschlagen wurde und der Freien Tanzszene und den Institutionen jeglicher (Zusammen)Halt und Strukturen abhanden gekommen sind? Ja, das wurden sie – und der Versuch, zehn Jahre danach mit der Verpflichtung von Pretty Ugly und Amanda Miller eine Ersatzbrücke zu bauen scheiterte, – auch weil er im Ansatz angesichts einer gewandelten Gesellschaft falsch war. Unsere Gegenwart und Zukunft definiert sich in anderer Weise: wir leben in einem HETEROTOPIA, einem Hier UND Dort zur gleichen Zeit – dies gilt im Besonderen Maße für den zeitgenössischen Tanzkünstler. Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete das Bild eines Schiffes als den idealen Ort in seinen „Heteropian Studies“, noch Jahrzehnte bevor das WorldWideWeb für eine weltumspannende kulturelle Revolution gesorgt hat. Das Schiff als Metapher für kulturelle, geistige und persönliche Identität, beladen mit Wissen, Werten, Kunst und Erinnerung aus denen Visionen/Utopien entstehen können, – beladen mit „Salz und Gewürzen“. Diese Schiffe brauchen sichere Häfen unterschiedlicher Größen, um zum Wohle Aller „Handel“ treiben zu können. Die Städte brauchen diese „Schiffe“, um nicht in Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Dancefilm „Suddenly Blond“ 2012 – My Lovely White Dog – Ch.: Nathalie Larquet

WERFTEN UND HÄFEN
Doch für Häfen ist in der Stadt Köln kaum noch Geld vorhanden. Dieses wird in Apparate gesteckt, die eigentlich zum Entladen der Schiffe gedacht waren, aber zum Betrieb schon neunzig Prozent der zugeführten Energie verbrauchen. Die Tanzgastspiele an den Bühnen waren ein solcher Hafen, wenngleich ein provisorischer und entsprechend unsicherer, aber immerhin weit genug um auch großen Schiffen Einfahrt zu gewähren. Werften für kleine Schiffe, mit denen der Nachwuchs in die Welt segeln sollte, wurden geplant und begonnen. Sie werden wohl bald keine Nachfrage mehr haben.  Die Speicher für die Bevölkerung bleiben weitgehend leer, weil es keine großen Schiffe mehr gibt, die in Köln vor Anker gehen. Die Freien Tanzschaffenden Kölns allein können die Versorgung nicht aufrecht erhalten. Auch ihnen fehlt es an Ankerplätzen, kleinen und mittleren Häfen und über kurz oder lang werden die größeren Schiffe davon die Stadt verlassen, wenn ihre Handelsorte zerstört werden.

Nach dem Willen der Verwaltung gäbe es für die freie Szene stattdessen einen Paddelbootverleih und nach ein paar Jahren guter Führung das konzeptionell geförderte Ruderboot, – die erste eigene ICH-Galeere. sowie ein paar Anlegestege für alle Bootsklassen. Dabei weisen sie mit dem Finger auf die Politik, die unverständlich zusieht oder schamvoll den Blick abwendet.
Hierbei übersehen Verwaltung und Politik Eines: Diese Künstler sind keine Bittsteller, sie sind das Salz und die Gewürze, die sie mit uns tauschen wollen. Sie sind reicher als der Reichste von uns auch wenn sie ihren Reichtum auf kleine Boote laden, um uns zu erreichen. Sie sind reicher als diejenigen von uns, die es sich leisten können in die Metropolen mit den ganz großen und auch vielen Häfen unterschiedlicher Größe zu fliegen oder ganz dort hinzuwandern mit ihren Familien, für die sie das Beste wollen, das sie erhalten können.
Die Tabula Rasa Politik im Namen der sozialen Fürsorge bewirkt in Wahrheit das Gegenteil. Menschen allen Alters und jedweder Herkunft aber insbesondere den nachwachsenden Generationen, die nicht zu den Wohlhabenden zählen, wird der Zugang zu dem verwehrt, was Leben über die reine Existenz hinaus ausmacht. Lassen sie uns zusammen daran arbeiten, dass Phantasie, Visionen und geistiger Reichtum die Basis unserer Stadtgesellschaft werden.