Erkenntnisreicher Tanzabend am Schauspiel Köln

Richard Siegal’s

MADE TWO WALKING | MADE ALL WALKING

Uraufführung begeistert das Premierenpublikum kann aber nicht überzeugen

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Nachtkritik von Klaus Dilger

„Was muss ein „Ballet of Difference“-Tänzer mitbringen?“ wurde der Choreograf und Künstlerische Leiter Richard Siegal im Februar 2018 kurz vor der Premiere des ersten Tanzabends seines neu am Kölner Schauspiel assoziierten Ensembles gefragt.

„Exzellenz ist die Grundvoraussetzung, jeder muss ein mörderisch guter Balletttänzer sein“,

antwortete dieser damals und half mit solchen Aussagen ein Image aufzubauen, das sich im kleinen Spielzeit-Folder 2021/22 der Compagnie so liest: „Virtuos und Sexy, Energetisch und Schwerelos“…“ und… „Die Zukunft des Tanzes ist Jetzt!“

Damals, vor beinahe vier Jahren, war ein Stück „Made for Walking“, Teil dieses dreiteiligen Eröffnungs-Tanzabends und unsere Nachtkritik befand: „… Unterschiede, Differenzen, aufgreifen und begreifen zu wollen, die Heterogenität des Lebens in all ihren Ausprägungen anzuerkennen und die Gemeinschaft in den Mittelpunkt zu stellen, ist sichtbar Siegals Anliegen. In „Made for Walking“ geht er noch einen Schritt weiter. Mit dem Komponisten Lorenzo Bianchi Hoesch hat er dazu einen „musikalischen Parcours“ entwickelt, auf dem die Tänzer mit ihrem Körper, mit Tanz und Bewegung nicht nur selber auch einen Teil des Sounds erzeugen, sondern dieser Sound auch in der Bewegung sichtbar ist. Eine großartige Idee, denn die Körper der Tänzerinnen und Tänzer werden damit in doppelter Hinsicht künstlerisch-gestaltendes Subjekt der Inszenierung. Seine Inspirationen für den musikalischen Part fanden Choreograf und Komponist in afrikanischen Rhythmuskulturen. Vielleicht tragen die drei Tänzerinnen und der Tänzer deshalb sandfarbene lange Kleider, die an Wüste und Einsamkeit erinnern. Ihre Füßen stecken in klobigen, schweren Arbeitsschuhen: ihre „Instrumente“ für den trampelnden Rhythmus, der die Choreografie durchzieht. Instrument ist aber auch der Körper, sind die Hände, mit denen sie klatschend Bewegung und Klang zusammen bringen….“

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MADE TWO WALKING / MADE ALL WALKING von Richard Siegal / Ballet of Difference am Schauspiel Köln
Foto: Thomas Schermer

Siegal hat diese Idee für seinen neuen, zweiteiligen Tanzabend aufgegriffen, zitiert, ins Zentrum gestellt und weiter entwickelt. Aus der zwanzigminütigen Choreografie für vier Tänzer_innen ist ein ebenso langes Duett geworden, getanzt von Margarida Isabel De Abreu Neto und Nicolás Martínez, im Beisein des Percussionisten Njamy Sitson, der trotz Präsenz am vorderen Bühnenrand erst spät in das Bühnengeschehen eingreift und auch dann noch immer etwas fremd bleibt. Sein Trommeln und seine schöne Gesangstimme bleiben solitär, ein Raum im Raum. Daran wird sich auch im zweiten, doppelt so langen Teil nichts ändern, dem der Musiker lange als Beobachter vor der Bühne beiwohnt, ehe er diese kurz vor Ende für ein kurzes Intermezzo betritt.

Er wirkt ein wenig wie der Meister, der seine Schüler_innen beobachtet, die er zuvor in Drumming-Workshops versucht hat, zu einer komplexen Einheit mit zu formen.

Ein Unterfangen, dem Glück zu wünschen (gewesen) wäre, denn mehr als die Hälfte der Tänzerinnen und Tänzer sind erst seit einem Jahr oder ganz neu zur Compagnie hinzugekommen. Vielleicht liegt es daran, dass von eingangs zitierter „Exzellenz ist die Grundvoraussetzung, jeder muss ein mörderisch guter Balletttänzer sein“, kaum etwas zu sehen war und selbst mancher der bisher tragenden Protagonisten an Qualität verloren zu haben scheint.

Nicht auszuschliessen, dass hierbei auch die Corona-Pandemie eine Mitschuld trägt.

Vor diesem Corona-Hintergrund, und damit einhergehenden drohenden Szenarien, erzeugen gemeinsame Theatererlebnisse, wie die Uraufführung von „Made Two Walking | Made All Walking“, so etwas wie Euphorie. Dass dieses mehr zum Hörerlebnisse wurde, dürfte zum Einen und vor allem am Soundtrack von Lorenzo Bianchi Hoesch und die rhythmischen Stampf-Kaskaden der Tänzer_innen gelegen haben, zum Anderen an der wenig überzeugenden Qualität der Tänzer_innen und daran dass am Wochenende im Schauspiel Köln die  Licht-Kunst von Matthias Singer eigenartig selbstbezogen blieb und vermutlich auch deshalb kaum Bildkraft entfalten konnte. Noch unlängst hatte dieser seine Kunst uneigennützig in den Dienst der „Ectopia“-Inszenierung von Richard Siegal mit dem Tanztheater Wuppertal gestellt und wunderbare Bilder der Tänzer_innen in der lebendigen Installation von Anish Kapoor, „Shooting into the Corner“, entstehen lassen und damit zu einem Gesamtkunstwerk beigetragen.

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MADE TWO WALKING / MADE ALL WALKING von Richard Siegal / Ballet of Difference am Schauspiel Köln Foto: Thomas Schermer

So blieben vor allem die Ohren offen, während sich die Augen ins Innere richteten und sahen: „…die eben noch in kleinen Formationen gegeneinander anlaufenden Tänzerinnen und Tänzer sich schon im nächsten Moment in einer gemeinsamen synchronen Bewegung vereinen.  Oft werden Reihen oder Linien gebildet, die Einzelne zu durchbrechen suchen oder aus denen sie ausscheren zu eigenen Soli. Dieses Stück ist in seiner choreografischen Struktur so einfach und zugleich so komplex, dass jede einzelne Bewegung, jedes Solo und jede Variation seine Berechtigung für sich und in der Gesamtkomposition erhalten. Genau diese Verbindung von Harmonischem und Gegensätzlichem macht die Faszination aus. Jeder kann die einfachen Bewegungen nachvollziehen, aber man muss schon den ständig sich variierenden Bewegungsverläufen genau folgen, um den Moment zu erkennen, in dem sich diese Bewegungen unmerklich verändert und verändernd zu einem komplexen Gebilde neu zusammen setzen. Wie sich die Tänzerinnen und Tänzer zu kleinen Formationen finden und wieder trennen, wie Kontakte gesucht und wieder aufgegeben werden, das alles verläuft bei allem Tempo mit einer heiteren Gelassenheit. Hat man den tänzerischen Wandel bemerkt, ist dieses neue Bild längst wieder in Bewegung geraten, sich erneut zu verändern. Die rollierenden Bewegungsabläufe entwickeln dabei einen Sog der konzentrierten Aufmerksamkeit, der die Energie von der Bühne auch in den Zuschauerraum trägt…“ ** – Genau darum hätte es doch wohl gehen sollen in Siegal’s neuem Tanzabend. Die Zeilen jedoch besprechen die meisterhafte Choreografie „Drumming“ von Anne Teresa De Keersmaeker aus dem Jahre 1998 für ihre exzellenten ROSAS Tänzer_innen, die mit ihrer virtuosen Gelassenheit dieser Symbiose von Tanz und Musik einen Körper verleihen, den der Tänzer_innen und den der mitschwingenden Zuschauenden. Bewegte Zeit in einem bewegten Raum – irgendwo zwischen Gravität und Resonanz.

Richard Siegal gehört trotz dieses weniger gelungenen Tanzabends, so die Meinung des Rezensenten, zu den kreativsten Tanzschöpfern des Landes.

**Klaus Keil in seiner Nachtkritik zu Anne Teresa De Keersmaeker „Drumming“ – tanzgastspiele -Köln 2012

Es tanzten: Martina Chavez , Jemima Rose Dean, Margarida Isabel De Abreu Neto , Livia Gil  , Gustavo Gomes , Sean Lammer, Mason Manning, Allison McGuire , Nena Sorzano (Nenash), Nicolás Martínez , Ian Sanford, Evan Supple , Madison Vomastek , Long Zou

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MADE TWO WALKING / MADE ALL WALKING von Richard Siegal / Ballet of Difference am Schauspiel Köln
Foto: Thomas Schermer