„tanz nrw 21“ gestern in Viersen eröffnet

Alle zwei Jahre zeigt tanz nrw, das Festival für zeitgenössischen Tanz, in neun Städten Nordrhein-Westfalens eine Auswahl aktueller Produktionen hier lebender Kompanien der freien Szene. Es ist ein Netzwerkprojekt von Tanzproduzent:innen, das kontinuierlich die Vielfalt von Tanz aus NRW sichtbar macht. – Veranstalter

Kommentar von Klaus Dilger

Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Wesrfalen, Isabel Pfeiffer-Poensgen und die Bürgermeisterin der Stadt Viersen, Sabine Anemüller, eröffneten das Festival tanz nrw 21 mit ihren Grußworten.

Besonders stolz sei sie, dass in diesem Jahr Viersen Eröffnungs- und Veranstaltungsort zahlreicher Aufführungen und Installationen sein darf, auch wenn diese, Pandemie bedingt, leider nur digital zu erleben sein werden.

Doch bereits vor der eigentlichen Eröffnung hatte es um 18 Uhr ein Video zur Installation „Die ultimativ positive, performativ installative, relativ alternative Schöpfung“ der Düsseldorfer Kompanie HARTMANNMUELLER gegeben, das anlässlich der dortigen Ausstellung „Tanz in der Kunst“ in der Städtischen Galerie im Park entstanden war und digitaler Ersatz des analogen Besuches sein soll. Die Ausstellung erstreckt sich über mehrere Räume  und will die Brücke zwischen bildender Kunst und Performance schlagen. „Passt die Schöpfung in ein Laboratorium?“ fragten die Performance-Spezialisten HARTMANNMUELLER, ohne hierauf eine Antwort zu geben, oder überhaupt einen Ansatz zu finden, diese Frage wirklich erlebbar zu machen, zumindest nicht im Medium Film.

HARTMANNMUELLER DIE ULTIMATIV, POSITIVE, PERFORMATIV, INSTALLATIVE, RELATIV, ALTERNATIVE SCHÖPFUNG©Sarah_Rauch

HARTMANNMUELLER DIE ULTIMATIV, POSITIVE, PERFORMATIV, INSTALLATIVE, RELATIV, ALTERNATIVE SCHÖPFUNG©Sarah_Rauch

Vielleicht wäre es hier angebracht gewesen, das digitale Publikum mit einer direkten Ansprache und Begleitung auf das zu fokusieren, was zwölf Tage lang einen digitalen Einblick in das Tanzschaffen NRWs geben könnte und zwar erstmals weit über die Landesgrenzen hinaus?

So entstand zum Auftakt der Veranstaltung der Eindruck, dass es sich hier, wie auch bei dem kurzen Filmbeitrag der KHM und SEONGMIN YUKs „FLOUNCE INTO FLOUNCE“ um ein Pausen füllendes Vorprogramm handle, das auf Reut Shemeshs, auf TANZwebNRW.de bereits besprochene, Aufführung von „COBRA BLONDE“ hinleiten sollte, die in einem Live-Stream aus der Viersener Festhalle übertragen wurde.

Hierbei gelangen dem Filmteam gelegentlich schöne Bilder, in dem schwierigen Versuch, das Stück einzufangen und dies interessant  zu gestalten. Aber dies gelang nicht immer, was zum Teil auch daran gelegen haben könnte, dass die veränderten Licht-Bedarfe der Kameratechnik nicht ausreichend adaptiert zu sein schienen. Qualitativ starke Brüche, besonders im Umschalten auf eine Totale oder Halbtotale, waren die Folge und beeinträchtigten den Fluss der Betrachtung, ebenso wie teilweise unsinnige Schnitte und Fokusierprobleme. All dies mag der Premierennervosität geschuldet gewesen sein. Reut Shemesh darf sich dennoch bei den Kameraleuten für den Versuch und manches Gelungene bedanken. Und auch in ihrer eigenen Arbeit gab es sie natürlich auch, die interessanten Bilder und spannenden Momente.

Diese arbeitet die Rezension von Rico Stehfest hier Im Anschluss heraus:

REUT SHEMESH COBRA BLONDE©Ronni Shendar

REUT SHEMESH COBRA BLONDE©Ronni Shendar

Und das Lächeln aus Stein

Reut Shemesh zeigt im tanzhaus nrw mit „Cobra Blonde“ die Frauen hinter einer Funkengarde

Nachtkritik von Rico Stehfest

Titelfoto: „Cobra Blonde“ von Reut Shemesh Screenshot © Ronni Shendar

Elf Freundinnen sollt ihr sein, uniformiert, kostümiert. Die blonde Langhaarperücke lässt sie alle gleich daherkommen. Die Mitglieder der Tanzgarde der Karnevalsfreunde der katholischen Jugend Düsseldorf marschieren in den Saal des tanzhaus nrw, ganz ohne Publikum, ganz ohne Musik. Und ganz so, als gelte es schon zu anfangs durchzuhalten, was nicht ertragen werden kann, ist das Lächeln verkrampft, aufgesetzt. Das macht vom ersten Moment an keinen Spaß. Der lustige Reigen ist aus seinem Kontext gerissen, die Lebensfreude ohne Authentizität. Was eigentlich Spaß machen soll, wird hier unter künstlerischen Gesichtspunkten dekonstruiert. Als Zuschauer soll man fremdeln. Das fällt tatsächlich nicht schwer. So funktioniert Bewusstmachung.

Die Bühne zeigt einige farbige Flächen am Boden, ein paar kleine Podeste, bescheiden. Keinem ist nach Jubel, wenn Tradition, zumal noch eine zutiefst deutsche, unters Seziermesser gerät. Die Performerinnen defilieren brav und gleichförmig an der Kamera vorbei, teilweise scheinbar nicht ganz überzeugt vom eigenen Tun, deshalb entsprechend nicht zur Gänze überzeugend. Hier ist das selbstredend Absicht. Mit entsprechendem Ernst sollte man dem also schon begegnen. Das zeigt der erste Moment der Verfremdung, wenn eine der Performerinnen mit Computerstimme spricht. „Let me be your best friend for tonight!“. Und ja, der Rock ist zu kurz. Das Publikum soll sich sogleich schämen, angesichts dieser offensichtlichen, weil kein bisschen unterschwellig gestalteten Sexualisierung der Frau an sich.

Reut-Shemesh_Cobra-Blonde_Foto-Ronni-Shendar

Reut-Shemesh_Cobra-Blonde_Foto-Ronni-Shendar

Die aus Israel stammende und in Köln lebende Tänzerin und Choreografin Reut Shemesh befragt immer wieder Geschlechterrollen. Insofern überrascht sie mit dieser Arbeit nicht. Sie zeigt das ausgestellt Sein dieser auf ihre Weiblichkeit reduzierten Frauen, ausgesetzt dem so gehassten wie gleichzeitig gesuchten männlichen Blick. Genau dieser Blick ist es, der dem Publikum durch die besondere Form der Inszeniertheit ganz bewusst gemacht wird. Dafür nutzt sie die bekannten Mittel der Verfremdung wie langsame, stark reduzierte Bewegungen, die plötzlich doch von den erwarteten Spagaten und Beinwürfen und Hebefiguren abgelöst werden. Das könnte und sollte ein wenigstens symbolischer Ausbruch der Emotionen sein, bleibt aber bewusst blutleer. Auch die spät einsetzenden Sounds sind verzerrt, fragmentarisch. Irgendwann werden die stimmungsvollen Gassenhauer nacheinander nur noch kurz angespielt. Man weiß ja, worum es geht. Und dieses etwas ist eben dysfunktional geworden. Da trägt eine der Performerinnen vier statt der üblichen zwei langen blonden Zöpfe. Damit wird die Kobra aus dem Titel zur Medusa. Oder zur Hydra.

Diese Dekonstruktion führt Reut Shemesh konsequent weiter, indem sie ihre Performerinnen Teile der „Uniform“ ablegen lässt. Vor allem das Absetzen der Perücken bewirkt einen Wandel vom typisierten Funktionsträger zu dem, was sie sind: Frauen, Individuen, Menschen. So, wie sie ihre Rolle ablegen, haben sie diese allerdings zuvor mit genau dem gleichen Bewusstsein angelegt.

Gegen Ende hin stellen sich die Performerinnen in einer eingespielten Tonspur kurz vor, werden dadurch aber trotzdem nicht als Nachbarin, Kollegin oder Freundin greifbar. Der schwülstige Unterton der Äußerungen ist aus Werbespots bekannt, die im analogen Fernsehen nicht vor 22 Uhr ausgestrahlt werden. Das Funkenmariechen ein Sexobjekt? Natürlich. Das ist hinreichend bekannt. Diese karnevalesken Figuren, so darf man sie wohl durchaus bezeichnen, sind in ihrer Definition Puppen. Das kritisieren zu wollen ist ebenso wenig eine Kunst, wie mit (deutschem) Traditionsgut zu fremdeln. Dafür braucht es nicht einmal persönliche Wurzeln in einem anderen Kulturbereich. Traditionen und Zeitgeist vertragen sich bekanntlich so ganz und gar nicht miteinander. Das zu befragen, ist immer richtig. Allerdings bleibt unklar, welche konkreten Fragen Reut Shemesh hier tatsächlich stellt. Hätte sich am Ende unter einer der Perücken ein Mann befunden, wäre zumindest eine weitere Dimension hinzugewonnen worden, die heutige Komplexität verdeutlichen würde.

©Reut Shemesh_Cobra Blonde

©Reut Shemesh_Cobra Blonde