TANZweb wird zehn Jahre!

In 2021 feiert TANZwebNRW sein zehnjähriges Bestehen: Was zunächst als TANZwebKOELN begonnen hatte, wurde bald schon zum TANZwebNRW.

DIESES JUBILÄUM WERDEN WIR GERNE IMMER WIEDER AUFGREIFEN FÜR KURZE RÜCKBLICKE, DENN DIESE SIND AUCH EIN SPIEGEL VON ZEHN JAHREN TANZGESCHICHTE IN NRW

von Klaus Dilger

Zunächst nur mit kurzen Videotrailern, die von den Premieren der Tanzereignisse in und aus Köln erstellt wurden, ähnlich dem damaligen Vorbild „Tanzforum Berlin“,entstand dann bereits in 2012, mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst NRW, die erste online Plattform für Tanzjournalismus, die eigene Video-, Film- und Fotobeiträge mit ebensolchen Rezensionen verbindet – oft sogar zweisprachig.

Bald kamen die Städte Bonn, Krefeld und Dortmund (heute Metropolregion Ruhr) hinzu und seit 2014 entwickelte sich die Plattform kontinuierlich weiter, insbesondere dank der visionären Kraft des NRW KULTURsekretariat Wuppertal, als tragende Kraft zwischen Kommunen und Ministerium, sodass diese in 2021 sogar grenzüberschreitend ihre fünfjährige Zusammenarbeit mit dem „schrit_tmacher justDANCE! Festival“ in der Euregio feiern darf – sofern der Tanz dann Corona bedingt analog vor Publikum überhaupt stattfinden kann.

TANZ OHNE PUBLIKUM?

Tanz als Kunstform bedarf des Publikums und das Publikum bedarf des Tanzes – eine Infragestellung, die bisher nur aus finanziellen Gründen denkbar erschien, wie etwa in 2013, als die Kölner Politik den Gastspieletat für die internationalen Tanzgastspiele an Schauspiel und Oper streichen wollten.

Heute erscheint es beinahe als Privileg, dass sich die Menschen in Köln erfolgreich gegen die geplante Abschaffung der Tanzkunst in der Domstadt zur Wehr setzen durften und konnten, denn Politiker und Lobbyisten lassen sich gelegentlich überzeugen, Viren dagegen nicht.

KÖRPER, SEIN und IDENTITÄT

Mehr denn je scheint die Frage nach der Bedeutung des anwesenden Körpers für unser Sein und unsere Identität evident und von höchster Relevanz zu sein, sowohl für die Individuen als auch die Gesellschaften, die sie formen. Wir leben vorübergehend in der empathischen Erinnerung an Tanz, indem wir diesen ersatzweise in Filmen und im Internet versuchen, erlebbar zu machen. Diese wird nicht dauerhaft herzustellen sein.

Der Kampf um den Erhalt der Tanzgastspiele wurde gewonnen, doch noch immer erscheinen die Fragen und Feststellungen Gültigkeit zu besitzen, die wir anlässlich der Protestveranstaltung formulieren durften, nicht nur für den Tanz in Köln, und sie werden erneut in den Mittelpunkt rücken, wenn die Kassen der Kommunen absehbar leer sein werden, nachdem die Folgen der Corona-Pandemie beherrschbar geworden sind. Aus diesem Grund veröffentlichen wir unseren Appell in leicht veränderter Form erneut als Mahnung:

Tabula Rasa-Politik auch für die freie Tanzszene? – Anlässlich der Protestveranstaltung in Köln, EXPO XXI, am 14.April 2013

„Zu Beginn der neunziger Jahre begann eine der größten kulturellen Revolutionen der Neuzeit durch die Erschaffung virtueller Realitäten und den Zugang hierzu mithilfe des World Wide Web auf und in dem wir gelernt haben zu gleiten (surfen), als sei es ein Meer.

Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

TANZ OHNE PUBLIKUM?

Unsere gesellschaftliche und individuelle Realität haben sich gravierend verändert. Im Rahmen einer virtuellen, weltweiten Informationsgesellschaft, in der wir uns frei und grenzenlos bewegen und in der wir nach Belieben Identitäten annehmen und wieder ablegen können, in der wir uns austauschen und einbringen können, in der wir eine wirkliche oder scheinbare globale Relevanz erfahren dürfen, bekommt die Frage nach unserem Sein und unserer Identität, die über die bloße Existenz hinausgeht eine neue Bedeutung. Dies erfordert auch einen künstlerischen Diskurs, der dringend geführt werden muss.

WARUM TANZEN WIR?

Der Tanz hat vermutlich eine weitaus wichtigere Bedeutung in unserem Leben und durchdringt weitaus mehr Bereiche, als sich viele von uns bewusst sind. Wir tanzen, um zu vergessen und um zu finden, zu entdecken, was und wer wir sind.

Choreografie und Tanz als Kunstform gestalten und überwinden bewusst und mit intuitiver Intelligenz Raum und Zeit mittels Bewegung, Energie, Körper und Licht (Alle Bilder sind Licht) und sie erschaffen gleichzeitig ein Zeichensystem jenseits mathematischer und linguistischer Logik, das unsere Sinne als Sprache begreifen können. Tanz, insbesondere als Kunst, verleiht der Theorie der Quantenphysik einen Körper und macht sie begreifbar.

Henrietta-Horn-Contrapunctus@TANZweb.org_Klaus Dilger

Henrietta-Horn-Contrapunctus@TANZweb.org_Klaus Dilger

WIE TEILEN und KOMMUNIZIEREN WIR TANZ?

Mithilfe modernster Highspeed Kameras und neuester Hirnforschung können wir nachweisen, was uns bisher nur intuitiv und aus Erfahrung heraus bewusst war: Wir erleben Tanz und Bewegungssprache äußerst realistisch am eigenen Körper, auch wenn wir nur Zuschauer sind. Dort, wo Zeit, Raum und Gravität (auch mittels großartiger Körpertechnik) scheinbar überwunden und Geist werden, helfen uns die Reize von Spiegelneuronen und unsere Empathie-Fähigkeit, diese Reise miterleben zu können. 

So gesehen sind wir alle Tänzer, aber nur wenige (Künstler) bringen uns so zum „Tanzen“, dass wir uns der Möglichkeiten unseres Lebens bewusst werden, die über die bloße Existenz hinausgehen.

Ob dieses Miterleben auch originär durch Tanzfilm möglich sein wird und unter welchen Voraussetzungen, bedarf einer eigenen Forschung.

DIE ENTDECKUNG DES SALZES

Der römische Schriftgelehrte Cassiodorus schrieb vor über 1500 Jahren: “Der Mensch kann ohne Gold, aber nicht ohne Salz leben.” Heute wissen wir, dass unser Körper, wenn er gesund ist, in seinen Flüssigkeiten die gleiche Salzkonzentration aufweist wie die Weltmeere, denen wir einst entstiegen sind. Der Besitz von Salz war über lange Zeit hinweg gleichbedeutend mit Zahlungsmittel. Das Wort Sold bedeutet eigentlich „Ration an Salz“ und findet noch heute Anwendung bis hin zu scheidenden Bundespräsidenten mit ihrem Ehrensold auf Lebenszeit. Die Kontrolle über das Salz bedeutete Reichtum und Macht. Das “weiße Gold” schuf vor allem im frühen Mittelalter florierende Städte, die teils heute noch Weltbedeutung haben und beflügelte den internationalen Fernhandel. Es ist ein Stoff, der die Welt veränderte obwohl er Meere füllt und auf der Erde im Überfluss vorhanden ist.

Trifft dies nicht auch für den Tanz zu? Die Vision, dass ein scheidender Bundespräsident in naher Zukunft anstatt mit einem Ehren SOLD mit einem Ehren TANZ verabschiedet wird, erscheint zumindest reizvoll.

Noch kostbarer als Salz waren und sind die Gewürze, die aus Indien und der östlichen Welt im frühen Mittelalter nach dem europäischen Festland gelangten. Deren sinnliche „Explosionen“, die durch die Geschmacksorgane ausgelöst wurden, kündeten von exotischen Orten, Abenteuer und Sinnlichkeit. Orte, die sich dem Hier und Jetzt entzogen – NICHTORTE (auf Zeit) in Verbindung mit einem wünschenswerten Zustand. Lautet so nicht die Bedeutung von UTOPIA? – und – WAS IST TANZ ANDERES, ALS EIN UTOPIA?

Jewrope_bodytalk©TANZweb.org

Jewrope_bodytalk©TANZweb.org

UTOPIA und TANZ

Oscar Wilde schrieb einmal: eine Landkarte, auf der ein UTOPIA fehle, sei für ihn ein wertloses Stück Papier. Unsere Gegenwart und Zukunft verändern sich in rasender Weise: Wir leben in einem HETEROTOPIA, einem Hier UND dort zur gleichen Zeit – dies gilt im besonderen Maße für den zeitgenössischen Tanzkünstler. Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete das Bild eines Schiffes als den idealen Ort in seinen „Heteropian Studies“, noch Jahrzehnte bevor das World Wide Web für eine weltumspannende kulturelle Revolution gesorgt hat. Das Schiff als Metapher für kulturelle, geistige und persönliche Identität, beladen mit Wissen, Werten, Kunst und Erinnerung, aus denen Visionen und Utopien entstehen können, – beladen mit „Salz und Gewürzen“. Diese Schiffe brauchen sichere Häfen unterschiedlicher Größen, um zum Wohle Aller „Handel“ treiben zu können. Die Städte brauchen diese „Schiffe“, um nicht in Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Internationales Solo Festival Bonn - Baader_Christof Winkler@tanzweb.org_Klaus Dilger

Internationales Solo Festival Bonn – Baader_Christof Winkler@tanzweb.org_Klaus Dilger

WERFTEN UND HÄFEN

Doch für die Funktion von Häfen ist in den Städten immer weniger Geld vorhanden. Das noch zugestandene Geld wird in Apparate gesteckt, die eigentlich zum Entladen der Schiffe gedacht waren, die aber zum Betrieb schon neunzig Prozent der zugeführten Energie verbrauchen. Die Tanzgastspiele an den Bühnen (Köln) waren ein solcher Hafen, wenngleich ein provisorischer und entsprechend unsicherer, aber immerhin weit genug, um auch großen Schiffen Einfahrt zu gewähren. Werften für kleine Schiffe, mit denen der Nachwuchs in die Welt segeln sollte, wurden geplant und begonnen. Sie werden wohl bald keine Nachfrage mehr haben.  Die Speicher für die Bevölkerung bleiben weitgehend leer, weil es keine großen Schiffe mehr gibt, die in den Städten vor Anker gehen. Die Freien Tanzschaffenden allein können die Versorgung nicht aufrecht erhalten. Auch und besonders ihnen fehlt es an den „Waren“, die mit den großen Schiffen in die Stadt gelangen und die Teil ihres eigenen „Handels“ werden können, an Ankerplätzen, kleinen und mittleren Häfen und über kurz oder lang werden die größeren Boote davon die Stadt verlassen, wenn ihre Handelsorte zerstört werden.

Die Förderung der Freien Tanzszene(n) in Deutschland erinnert gelegentlich an einen „Paddelbootsverleih“, dem nach ein paar Jahren guter Führung das konzeptionell geförderte Ruderboot in Aussicht gestellt wird, – die erste eigene ICH-Galeere. Sowie ein paar Anlegestege für alle Bootsklassen. 

Compagnie Irene K.©TANZweb.org

Compagnie Irene K.©TANZweb.org

KEINE BITTSTELLER

Hierbei übersehen die Verantwortlichen gelegentlich eines: Diese Künstler sind keine Bittsteller, sie sind das Salz und die Gewürze, die sie mit uns tauschen wollen, auch wenn sie ihren Reichtum auf kleine Boote laden müssen, um die Menschen zu erreichen. Sie sind daher ganz offensichtlich auch reicher als diejenigen, die es sich leisten können, in die Metropolen mit den ganz großen, zahlreichen und vielfältigen Häfen zu fliegen oder ganz dort hinzuwandern mit ihren Familien. Ihre Arbeit zu fördern bedeutet strukturelle Ermöglichung der Teilhabe der Gesellschaft an deren Reichtum. Was einst das Salz erst ermöglichte, nämlich unsere Nahrung zu konservieren, um nicht von der Hand in den Mund leben zu müssen, bedeutet heute die Kunst im übertragenen Sinne.

Eine zu befürchtende  „Tabula Rasa Politik“ im Namen der sozialen Fürsorge, die Kunst und Kultur gegen Soziales auszuspielen gedenkt, bewirkt in Wahrheit das Gegenteil. Menschen allen Alters und jedweder Herkunft, aber insbesondere den nachwachsenden Generationen, die nicht zu den Wohlhabenden zählen, wird der Zugang zu dem verwehrt, was Leben über die reine Existenz hinaus ausmacht:  Fantasie, Visionen, kulturelle Identität und geistiger Reichtum, die die Basis unserer Stadtgesellschaft darstellen.“

Albert Einstein wird der Satz zugeschrieben, wir könnten unsere Probleme nicht mit denselben Mitteln lösen, die diese Probleme geschaffen haben. Wir haben die Chance, gerade jetzt, Zeit neu zu denken, Leben neu zu denken. Vieles spricht dafür, dass nicht Wenige damit begonnen haben. Der Tanz als Kunstform kann dabei helfen Utopien zu entwickeln und sie Realität werden zu lassen.