UMJUBELTE WIEDERAUFNAHME DES TANZTHEATER WUPPERTAL PINA BAUSCH
“AUF DEM GEBIRGE HAT MAN EIN GESCHREI GEHÖRT”
GESTERN IM WUPPERTALER OPERNHAUS
Nachtkommentar von Klaus Dilger
HIER GEHT ES ZUM VIDEO MIT DEN ERSTEN EINDRÜCKEN
Die dicken Schichten aus Torf, Sand und Erde erinnern an Pina Bausch’s “Frühlingsopfer” und auch hier herrscht von der ersten Minute an die beklemmende Atmosphäre eines Schlacht- und Opferplatzes. Menschen auf der Flucht huschen an den Brandmauern des offenen Theatersaals entlang bis in die Zuschauerreihen hinein. Man hört ihr Keuchen, ihre Schritte, ganz nah. Wähnte sich der Zuschauer nicht im sicheren Theatersessel, sondern an irgendeinem anderen Ort, von denen es überall in der Welt so erschreckend viele todbringende gibt, er fühlte sich wohl aufgefordert mitzufliehen, ohne den Grund der Flucht auch nur zu kennen.
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Die Bedrohung gewinnt bald Gestalt in Form eines Mannes (Michael Strecker), der in seiner knappen roten Badehose und Schwimmkappe an einen Rettungsschwimmer erinnert, während der Lichterschatten seiner roten Sonnenbrille der Kappe die Kontur einer Maske verleiht, wie sie wohl Scharfrichter tragen. Lautlos und in verlangsamtem Tempo schreitet er in schwarzen, geschlossenen Schwimmschuhen durch die öde Erde. Seine Hände stecken in pinkfarbenen Gummihandschuhen, als müssten sie ihn bei einer schmutzigen Arbeit schützen.
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Wie in einem Ritual, das tödliche Fließbandarbeit symbolisiert, zieht er einen Luftballon nach dem anderen aus seiner Badehose und bläst ihn vollkommen emotionslos bis zum platzen auf, während Angst und Flucht seine Zeugen sind.
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Später wird er einen Picknickstisch aufbauen, seinen Unterarm auf ein silbernes Tablett legen und ihn mit Wurstscheiben und Salat zum Sandwich belegen, ihn mit kleinen Mayonaisehäubchen dekorieren, während die Tänzer nun starr und bewegungslos im Halbdunkel die Szenerie aus dunklen Augenhöhlen beobachten, als wären sie Schatten aus dem Totenreich.
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So grotesk und beklemmend beginnt Bausch ihre 1984 entstandene Collage “Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört” (“…viel Klagens, Weinens und Heulens, Rahel beweinete ihre Kinder und wollt sich nicht trösten lassen…”), die nun für vier reslos ausverkaufte Aufführungen und mit teilweise neuer Besetzung im Wuppertaler Opernhaus in einer Wiederaufnahme zu sehen ist. Der Titel des Stücks geht auf eine Prophezeiung im Alten Testament zurück, nachdem Herodes den Mord an allen Knaben bis zum Alter von zwei Jahren nach Jesu Geburt befohlen hat.
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Die Choreographin inszeniert diese Klage mit deutlich spürbarer Betroffenheit (Ihr Sohn Salomon war gerade zwei Jahre alt geworden) über weite Strecken als ein Schlachtengemälde, bei dem die Bilder von Begegnung, Sein, Individuum wie Einschübe wirken, die Vor- und Rückblenden eines Filmes gleichen. Sie sind Tiefenbohrungen in die Seele der Protagonisten und doch bleiben die Ergebnisse ungewiss. Ein Paar (Dominique Mercy und Andrey Berezin) scheint losgelöst von der Willkür der Macht; umgeben mit der Aura der natürlichen Vergänglichkeit des Lebens folgen sie ihrem eigenen zeitlichen Strang.
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Die allgegenwärtige Ohnmacht empört und lässt trauern. Gegen eine Macht, die, wie so oft, ihr Werk mit blankem Zynismus und scheinbar unaufhaltsam verrichtet, verkleidet als Lebensretter in einer roten Gummibadehose oder als Fratze im Designeranzug, entstellt von einem Gummiband das Nase und Ohren deformiert.
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Das wissende Lächeln der Bausch, – an diesem Abend trägt es in seiner zynischem Form nur der Henker. Auch radschlagende Kinder, die an den Armen zusammengebunden sind oder Verstecken spielen, werden lächeln aber keine Wissenden sein.
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Nur wenige Augenblicke der Hoffnung, zwischen all den Kampf-, Schlacht- und Opferplätzen, die dieses Stück wie ein roter Faden durchziehen, gönnt die Choreographin uns und ihren Tänzern. Andere, wie etwa die Szenenfolge, bei der eine Vielzahl mannshoher Tannenbäume, von den Tänzern rennend in die Ödnis getragen , an Natur und Weihnachtsmomente erinnern, in denen ausgelassen Emotionen gelebt und geteilt werden dürfen, entpuppen sich als grausame, ja geradezu groteske Illusion. Diese Augenblicke der Fröhlichkeit, sie sind nichts als eine kurze Kampfpause, die den Menschen noch grösseres Leid verursachen werden, indem durch Nähe und Freude eine neue emotionale Fallhöhe geschaffen wird, ehe die Choreographin die Männer sich erneut in die Schützengräben irgendwelcher Kriegsschauplätze stürzen lässt…
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“Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört” ist ein Stück über das Ungewisse, über Bedrohung, Gewalt und die Angst, die hier nur für wenige Augenblicke vor der Schönheit, der Poesie aber auch vor der Trauer zurückweicht.
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Wie immer bei den Werken Pina Bausch’s wirken die Bilder fort und deren Fortwirken, Veränderung und Erkenntnis übersteigt bei Weitem den zeitlichen Rahmen der Fertigstellung einer kritischen Besprechung des Gesehenen und Erlebten. Auch deshalb ist die Kunst der Choreographin und ihres Ensembles so lebendig. Die Bilder brennen sich ein in das Gedächtnis des Betrachters und leben in ihm und durch ihn fort, werden Teil der eigenen Geschichte.
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Die Inszenierung ist aktueller denn je, ohne dass sie dies vermutlich jemals sein wollte. Auch dies ein Wesensmerkmal von Kunst, die ohne Zeit und gerade deshalb stets auch zeitgenössisch ist. Werke dieser Art altern nicht, sie lebendig zu halten aber bedarf es der Körper der Tänzer, die sie transportieren. Allein seit der Wiederaufnahme im Jahr 2013 sind neun von dreiundzwanzig Tänzerpositionen neu besetzt worden und dies zum Teil mit Tänzern, die selbst nie mit Pina Bausch getanzt oder sie gekannt haben. Dass dies funktionieren kann, ist nicht nur der Präsenz und der ungeheuren Präzision der langjährigen Ensemblemitglieder zu verdanken, sondern offensichtlich auch einem feinen, sensiblen, sensitiven und respektvollen System verbaler und physischer Vermittlung und Überlieferung dessen, was Pina Bausch und ihr Ensemble auszeichnet und ihnen zu ihrem Weltruf verholfen hat.
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Das Erbe Pina Bausch’s lebendig zu halten – es findet hier ein weiteres Beispiel, dass es gelingt.
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mit:
Emma Barrowman, Rainer Behr, Andrey Berezin, Michael Carter, Çağdaş Ermis, Jonathan Fredrickson, Ditta Miranda Jasjfi, Scott Jennings, Dominique Mercy, Blanca Noguerol Ramírez, Breanna O’Mara, Nazareth Panadero, Jean-Laurent Sasportes, Franko Schmidt, Azusa Seyama, Julie Anne Stanzak, Julian Stierle, Michael Strecker, Fernando Suels Mendoza, Tsai-Wei Tien, Paul White, Ophelia Young, Tsai-Chin Yu