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Vom lebensgierigen Einzeller bis zum einsamen Cyborg. Der dreiteilige Abend „Entomo Y Otros“ beim Bonner Festival „Into the Fields“
Von Nicole Strecker

Ein Männerrücken. Perfekte V-Form, eine ordentlich gereihte Armee von Wirbeln und Rippen, Muskelstränge und zarte Fibrillen, Hautgekräusel. Eine makellose Skulptur, doch dann führt sich der Rücken von Tänzer Álvaro Esteban auf als sei er eine eigenständige Kreatur. Ein pulsierendes, bebendes Wesen, das sich wölbt, dehnt, pumpt wie im Akt des Gebärens. Was Esteban hier mit seiner toptrainierten Rückseite anstellt, vermag er – wie sich im Laufe des Abends zeigen wird – mit jedem Körperteil. Er ist ein Virtuose des fragmentierten Körpers, kann jede Gliedmaße isoliert in eine andere Richtung tanzen lassen und etwa mit den Armen so eigenständig-präzise gestikulieren, dass man den Torso dahinter vergisst. Das hat ein bisschen was von der Körperteil-Nummer „Zersägte Frau“ in einer Zaubershow, ist in Estebans Solo „Antipodas“ aber präsentiert mit todernster Daseinstragik.

Seine sich ständig verwandelnde Kreatur ist eine verlorene. Ohne Orientierung, Halt und definiertes Sosein. Ein Wesen, das immerzu dem Schmerz des Werdens ausgesetzt ist. Esteban ist eine Gottesanbeterin mit behutsam die Luft abtastenden Fühlern. Er ist ein Vogel im ruckelig-ziellosen Hin-und-her. Eine zitternde Pflanze, die akustisch ein Sturm umbraust. Und schließlich auch: Ein Mensch, der sich mühsam zum aufrechten Stand hochgearbeitet hat. Endlich also gottähnliches Geschöpf? Herrscher über die Natur, Elite der Evolution? Weit gefehlt. Im spektakulären Schlusseffekt zeigt Esteban sein Gesicht: Es ist eine zum wilden Schrei verzerrte Fratze. Eine Horror-Chiffre.

Estebans existenzielles Stück über ‚Gegenspieler‘ ist Auftakt zu einem dreiteiligen Gastspiel-Abend im Theater im Ballsaal, an dem es immer wieder um dramatische Metamorphosen, um den Kontrollverlust über den eigenen Körper, Auflösungen geht. Im Jahr 2009 erarbeitete Esteban gemeinsam mit seinem spanischen Kollegen Elías Aguírre das Duo „Entomo“, das nun Höhepunkt des Abends „Entomo Y Otros“ ist. Erst gibt es das „Otros“ – also jeweils eine solistische Arbeit der beiden Choreografen und Tänzer.

So gleitet der Zuschauer im lichttechnisch geschickt gelösten Übergang von Estebans organischem Krauch-Flatter-Kampfgeschöpf zu Aguírres Stück über eine Art biotechnologischen Cyborg. „Longfade“ heißt sein Solo, für das er sich vom niederländisch-portugiesischen Philosophen Baruch de Spinoza hat inspirieren lassen, dessen Monismus auch als Attacke auf die Willensfreiheit begriffen werden kann.

Und so zeigt Aguírre ein Geschöpf, das den Verlust der freien Selbstbestimmtheit durchleidet. Als seriöser „Anzugträger“ tritt Aguírre auf als ginge es hier um Alltagsbusiness, doch schon mit der ersten Bewegung zeigt sich: Der Mensch ist mehr Roboter als Souverän – und offenbar ein Roboter mit fundamentalen Fehlfunktionen.
Immerzu zuckt, dreht und ruckelt es in Aguírres Körper, immerzu hängt irgendetwas schief, entwischt ihm eine Gliedmaße in die verkehrte Richtung. Die Mechanik ist außer Kontrolle – und Aguírre ein exzellent im Popping, Locking und Slide-moves-Style trainierter Streetdancer.

Das hat eine starke Komik, gemäß dem Slapstick-Prinzip: ‚ist das eine Ende unter Kontrolle, bricht am anderen das Chaos aus‘. Aber wie Esteban strebt auch Aguírre mit unterhaltsamer Virtuosität nach philosophischem Ernst, erzählt von zeitgemäßen Existenzgefühlen wie Ohnmacht und Fremdgesteuert-Sein – und in Momenten meint man gar, er skizziere auch das psychologische Porträt eines am trendigen Kindersymptom ADHS, dem „Zappelphilipp-Syndrom“, Erkrankten.

Die choreografische wie thematische Nähe zwischen beiden Choreografen erweist sich in diesem „Triple Bill“ als Nachteil für die Intensität der einzelnen Stücke, und momentweise fühlt man sich von den ewigen Metamorphosen erschöpft. Doch in jedem Fall sind beide Choreografen fantastische und absolut sehenswerte Tänzer – Álvaro Esteban war zuletzt in NRW schon in der Produktion „Pieces of me“ der Gruppe CocoonDance positiv aufgefallen: präzise in der Form und – vor allem in der gemeinsamen Produktion „Entomo“- aggressiv in der Energie.

Wie zwei aufeinander gestapelte Leichen liegen Álvaro/Esteban zu Beginn ihres Erfolgsduos auf dem Boden. Dann durchzuckt den einen der Lebenstrieb, er richtet sich auf, stellt sich auf den Rücken des hingeklatschten Partners – so gleichgültig gegenüber Schmerz und Respekt vor dem Körper wie ein Insekt. Dancefloor-Music verwandelt die basalen Instinktkreaturen später mit nur geringen Modifikationen in monoton-geloopte Techno-Clubtänzer. Und wann immer einer der beiden aus dem stumpfen Bewusstsein-Zustand ausbricht, für einen Moment ein fühlender Mensch wird, einsam, erschöpft, resigniert – beharrt der andere auf dem maschinenhaften Modus. Als verweigere er eine Begegnung, als gebe die Gleichförmigkeit Schutz und Struktur. „Entomo“ setzt viele Assoziationen frei, lässt an den vergeblichen Kampf gegen das ewige „Stirb‘ und Werde“ ebenso denken wie an das spannungsvolle Verhältnis von Intellekt und Instinkt im Menschen. Oder – ganz psychologisch – an das Scheitern einer Liebe.

Ein starker Abend über den Menschen als Natur-, Kultur-, ja mittlerweile längst technisch gepimpte Kunst-Kreatur – vielleicht doch weniger ein Geschöpf des Himmels als der Hölle.