Sung-Im Her tanzt ihr Solo „You are okay“ und die Tanzwerke Vanek Preuß inszenieren einen „Body of Evidence“. Zwei Premieren beim Tanzsolofestival Bonn

 

Eine Nachtkritik von Nicole Strecker

Gibt es einen „deutschen Körper“? Oder vielleicht eher einen „europäischen“? Und einen „koreanischen“? Der Körper wird durch Interaktion geformt, behauptete schon Philosoph Pierre Bourdieu. In einer Art „stillen Pädagogik“ schreiben sich – so Bourdieu – Werte, Moralvorstellungen, vielleicht auch eine Metaphysik in ihn ein. Wer seine Heimat verlässt, lange Jahre in einer neuen lebt, durchziehen dessen Leib also lauter kleine Grenzen, Partien, die ‚deutsch‘, andere die ‚koreanisch‘ sind? Vor über 40 Jahren emigrierten koreanische Gastarbeiter nach Deutschland, um dort speziell in Nordrhein-Westfalen im Bergbau zu arbeiten. Viele von ihnen blieben. Die Choreografin Sung-Im Her, naheliegenderweise selbst ein Migrantenkind mit koreanischen Wurzeln, wollte nun wissen: Wo ist ihr Zuhause? Im Rahmen des vom NRW-Kultursekretariats geförderten „Tanzrecherche“-Projekts interviewte sie koreanische Immigranten, spürte Körpergesten, Körpererinnerungen nach. Und dann wurde ein Stück daraus: „You are okay“.

Ein nackter Rücken auf der Bühne im Theater im Ballsaal – „mal wieder“, seufzt da der regelmäßige Tanzbesucher. Es ist ein Kreuz mit dem Kreuz. Denn speziell die Spezies der Solisten zeigt gern, welch‘ wundersame Metaphern so ein Rücken bilden kann. Mit Schulterblättern, die sich wie Hörner durch die Haut drücken. Die Rippenbögen –  zwei Krallen. Die zarten Knubbel der Wirbelsäule – sie künden vom Dinosaurier in uns. Der Mensch, das uralte Tier – nirgendwo wird das sichtbarer als zwischen Atlas und Steiß.

Das ist nun auch bei Sung-Im Hers pumpendem Rücken nicht anders. Allerdings: Sie lädt die vertraute Chiffre maximal auf. Vor der poetischen Hintergrundprojektion behutsam ineinander verlaufender Schwarz-Weiß-Töne der Illustratorin So-Mang Lee erzählt Sung-Im Hers Rücken von Verletzlichkeit und Schmerz wie auch vom Aufbäumen. Wer sich anfänglich an der schamhaften Erotik eines zarten – asiatischen – Frauenrückens erfreute, sieht sich bald mit einem kraftstrotzenden Koloss konfrontiert. Hers Rücken ist die Erinnerung an eine sanfte Hügellandschaft und er ist krumm wie der der malochenden Arbeiter unter Tage. Es ist, als hätten sich all die Geschichten, Erinnerungspixel und Biografien, die Sung-Im Her im Laufe ihrer Recherche zu hören bekam, in ihren Körper eingeschrieben. Ein kollektiver Körper. Einer ohne sexuelle und kulturelle Identität und emotionale Eindeutigkeit. Dieses Gefühl von Fremdheit und Unbegreiflichkeit wird in Sung-Im Hers Solo bleiben, irritieren, weil man verstehen will, aber nicht kann, was die Stück-Rezeption selbst – ob gewollt oder nicht – zur typischen Erfahrung interkultureller Begegnungen macht.

Sung-Im Her ist Absolventin von Anne Teresa De Keersmaekers renommierter Brüsseler Schule P.A.R.T.S. Sie arbeitete schon für Jan Fabre, die Needcompany und Les Ballets C de la B. Keine Überraschung also, dass sie als Performerin in jedem Augenblick eine souveräne Publikumsdompteuse ist, mit wunderbarer Lust an   aggressiver Widersprüchlichkeit. Sie singt eine heitere Liebeserklärung und Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie cremt Brust und Gesicht mit schwarzer Farbe ein – wie die rußverschmierten Gesichter der Kumpel, und verliert durch das „Blackfacing“ jede Kenntlichkeit. Sie rafft silbrige Rettungsfolie wie einen Rock um ihre Hüften, hebt elegant die rechte Hand als halte sie einen Fächer und dreht sich langsam in der Körper-Tradition asiatischer Theaterformen. Es ist eine Reminiszenz an das alte koreanische Musiktheater „Pansori“. Nur hat Sung-Im Hers Diva längst ihre Stimme verloren: Wie ein stummes Spieluhren-Figürchen dreht sie sich von der Bühnenrampe in die Dunkelheit – dem Vergessen entgegen. Ein bezauberndes Solo, dessen Rätselhaftigkeit fasziniert.

„Body of Evidence“

Wie sehr solch‘ Mysteriosität immer auch Gefahr läuft, ins Privatmythologische abzurutschen, offenbart dann die zweite Premiere des Abends: Denn der „Body of Evidence“, also das „Beweisstück“ von den Bonner „Tanzwerken Vanek Preuß“ bringt wenig Aufklärung in seinen Fall. Der Schauplatz: ein Tanzprobenraum. Das Verbrechen: Die Geschichte der furchtlos-effektsicheren Tänzerin Iorhanne Da Cunha. Eigentlich sollte ihr ‚Delikt‘ durch das des Tänzers Olaf Reinecke ergänzt werden, doch der war erkrankt. So blieb es bei Da Cunhas biografisch inspiriertem Solo.

Dem Programmzettel ist zu entnehmen, dass die Französin gelernte Schneiderin und Zirkusartistin ist, und an Letzterem lässt die Faktenlage keinen Zweifel: Kaum geht der Abend los, steht Da Cunha schon im einhändigen Handstand auf wackeligen Klötzchen. Außerdem spielt sie Geige und Klavier, wie sie nacheinander demonstriert: Erst ein bisschen Violinen-Bach, dann eine Turneinlage, dann Klavier-Satie. Anfangs absolviert sie die musikalisch-körperlichen Übungen noch ganz ordentlich, dann aber immer schneller wie im Wettkampf. Ein verrückter Parcours-Lauf der Kunst. Man erahnt das von ehrgeizigen Eltern geförderte, gedrillte Kind, das wohl in Da Cunha stecken mag – doch nach diesem herrlichen Auftakt ahnt man eigentlich nichts mehr. Dann tanzt Iorhanne Da Cunha sehr lange kopfüber auf den Händen stehend ein Duo mit einer weißen Wand oder ihrem Schatten. Manchmal erinnern ihre Zitate von eleganten Bewegungen als vollführe sie hier eine Luftnummer am Trapez, nur eben in Zeitlupe, ohne helfendes Utensil und deshalb mit zitternden Muskeln und lautem Atem. Ein leise eingespielter Soundtrack aus Knarz- und Gonggeräuschen (wieso bloß?) begleiten ihre Aktion. Ein ziemlich auf der Stelle tretender Purismus, auch wenn sich fraglos allmählich das Mitleid mit diesem „Opfer“ einstellt, dessen Körper so unendlich lange kopfüber steht – eine Schinderei. Erst am Ende findet der Abend zu seinem anfänglichen Humor zurück. Dann öffnet die „handlaufende“ Da Cunha eine Tür, zieht sich mit einem letzten Stunt an ihr hoch und verschwindet. Warum durch eine Tür gehen, wenn man auch über sie klettern kann? Die kreative Kompliziertheit des Künstlers – mehr davon, und das unlösbare Verbrechen „Solotanz“ hätte seinen Thrill gehabt.