Feed Your Head Collective

YOU CAN’T TRUST ANYTHING

Nochmals am 3. und 4. Februar um jeweils 20 Uhr im Studio Trafique in Köln.

Eine Kritik von Hedieh Feshari, 20. Januar 2023

Rendered in real time“, das neueste Werk aus dem Hause des FEED YOUR HEAD COLLECTIVE feierte am 3. und 4. Dezember 2022 Premiere in der Brotfabrik Bühne Bonn. Das interdisziplinäre Tanzstück lotet mittels Videokunst und Künstlicher Intelligenz aus, wie Wahrheit und Authentizität produziert werden und karikiert zugleich die Mechanismen der internationalen Tanz- und Kunstwelt.

Der Flyer zum Stück beschreibt „rendered in real time“ als „das multimediale Tanztheater des Jahrhunderts“, welches „Premiere bei der Biennale 2022“ feierte und nun als „bestes Stück des Jahres“ „auf Welttournee“ geht. Dass die Macher:innen des Stücks das Publikum damit gewollt in die Irre führen, ahnt man zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auf eine Art Triggerwarnung, im Stile von „Der folgende Text könnte Spuren von Fake News, Ironie sowie übertriebenen Superlativen enthalten“, wurde bewusst verzichtet.

„La merde chaude“– shit is (un)real

Die beginnende Auflösung erfolgt erst ungefähr ab der 19. Minute durch die im Hintergrund auf die Leiwand projizierten Bilder. Aufwendig inszenierte Fotomontagen zeigen abwechselnd die Hauptdarsteller in unterschiedlichen nachgestellten Situationen und gefakten Settings: mal ist es Dwayne Holliday auf dem Cover des britischen Dancing Times Magazins, ein anderes Mal Angie Taylor auf der Titelseite des Rolling Stones, die sie als „The Bass Queen“ bezeichnet oder wahlweise eine Lichtprojektion auf der Pariser Louvre Pyramide mit dem Schriftzug „TOBIAS WEIKAMP (LA MERDE CHAUDE“. Spätestens hier zeigt sich, „rendered“ ist als Metakommentar auf den Kunstbetrieb per se und als allgemeine Kultur- und Medienkritik zu verstehen, die den Stellenwert prestigeträchtiger Institutionen infrage stellt.

©Hedieh Feshari

©Hedieh Feshari

Abramovic wird Gaga und Putin schaut zu

Die popkulturellen Referenzen hören an dieser Stelle nicht auf. Im Hintergrund mutiert ein auf der Stelle auf- und ab hüpfendes Huhn zu einem Menschen, zeitweise sogar in die weltbekannte Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Mit Hilfe von CGI-Technik und sogenannter Deepfakes nehmen die Mitwirkenden die Identitäten weiterer berühmter Persönlichkeiten an. So erscheint Fotograf Alessandro De Matteis plötzlich mit dem Gesicht von Keanu Reeves, Musiker Mogens Kragh hat das Konterfeit Vladimir Putins inne, während Tänzer Dwayne Holliday als charmant lächelnde Emma Watson kokett mit dem Publikum flirtet und Musikerin Angie Taylor sich in Lady Gaga verwandelt. Im „hyperrealistischen“ Raum des Metaversums erscheint nichts unmöglich, mag es noch so absurd wirken.

Alles Dada oder was? Die Ursonate lässt grüßen.

Cut – Schwarzblende: Stimmengwirr auf der Tonspur. Zwei Menschen verlieren sich in einer scheinbar angeregten Diskussion. Losgelöst von einem tatsächlichen Sinn, sind nur einzelne Sprachfetzen zu verstehen; betont wird die Wichtigkeit von etwas, aber ohne aufzuklären, um was es dabei genau geht. Das Fake-Gespräch endet mit wortwörtlichem „bla bla bla“. Seichter Sinn weicht an dieser Stelle tiefergehendem (vermeintlichen) Unsinn. Ob die Assoziation mit der dadaistischen Ursonate von Kurt Schwitters (1921) an dieser Stelle reiner Zufall ist oder nicht, lässt sich nicht genau sagen. Sicher ist jedoch die gleiche Botschaft: „eine Art spielerische Dekonstruktion des bildungsbürgerlichen Diskurses“. Etwa 100 Jahre später wirkt es so, als seien der Snobismus und Elitarismus von damals noch immer allgegenwärtig.

Zu schön, um wahr zu sein

Ein Intermezzo zur Mitte des Stücks zeigt ein eindrucksvolles Ballett-Solo von Dwayne Holliday begleitet von Hip Hop und Electronic Beats, die 80ies Vibes transportieren. Unterstrichen wird dieses Gefühl von einer sonoren Stimme, die in Dauerschleife die Begriffe „materiality, reflection, beauty, truth“ wiederholt. Tobias Weikamp nimmt das Smartphone zur Hand und filmt Hollidays Solo (oder tut so als ob?), während auf dem Bildschirm zwar der Körper Hollidays agiert, aber mit dem Gesicht des US-amerikanischen Schauspielers Jim Carrey. Das zwischen „beauty“ und „truth“ immer wieder eingeschobene Audio-Snipet „discrepancy“ zum Ende hin, wirkt wie eine Antithese zum Gehalt von „Schönheit“ und „Wahrheit“. Was wir sehen, mag nicht immer stimmen, auch wenn es noch so verlockend und anziehend wirkt.

©Hedieh Feshari

©Hedieh Feshari

Das Leben – ein Zirkus der Eitelkeiten

Eine andere Dimension der Renderings zeigt abwechselnd nackte menschliche Körper, angerichtet in unterschiedlichen ineinander übergehenden Portraits. Die KI hat hier ganze Arbeit geleistet: Die ästhetischen, fast schon pornographischen Darstellungen fokussieren sich auf äußere Extremitäten und sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Beine, Brüste und Hinterteile, die normschöne vollkommene Formen mit geradezu unrealistischen Maßen annehmen. Ein Seitenhieb auf den Schönheitswahn in der heutigen Gesellschaft und der Influencer-Kultur, die mit ihren Beauty-Trends und dem Werben um und mit angeblicher Authentizität im Prinzip nur sich selbst bzw. ihre Produkte vermarkten.

Renaissance meets Moderne
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Vor dieser Kulisse setzen Dwayne Holliday und Tobias Weikamp zu einem perfekt abgestimmten Paartanz an. Die formvollendeten Silhouetten auf der Leinwand mutieren zu behaarten, beleibten Männerkörpern. Die Optik hat einen zunehmend virilen, animalischen, fast schon aggressiven Charakter. Die Musikkulisse beherbergt bedrohliche jeder Melodiösität gewichene Sounds. Im Hintergrund sind gerenderte Bilder zu sehen, die an Renaissance Malereien erinnern, angelehnt an die apokalyptischen Fantasien eines Hieronymus Bosch. Das akrobatische Tanzduett ist im Tempo stark gedrosselt und wirkt dadurch besonders ausdrucksstark. Untermalt wird das intermediale Schauspiel von irisierendem Sirenengesang, der abwechselnd ein- und dann wieder mehrstimmig erklingt – quasi a capella.

©Hedieh Feshari

©Hedieh Feshari

Mund-zu-Mund-Propaganda

Es folgt eine Bildersequenz der Darstellenden mit weit aufgerissenen Mündern. In gewisser Weise erinnert sie an die Sehenswürdigkeit Bocca della Verità in Rom. Zu Beginn vernehmen wir noch sanfte, ruhige Pianoklänge – die Atmosphäre ist molto grave. Anders als bei der Steinplatte greifen wir – die Zuschauenden – aber nicht mit unserer Hand in den Mund hinein, sondern werden mit unseren Blicken hineingesogen. Ein typisch klassisches Musikstück begleitet von einer Violine und einem Chor setzt ein. Aus dem großen schwarzen Loch entsteht ein Übergang von Mund zu Mund. In jedem Mund steckt also die Wahrheit des jeweils anderen – im buchstäblichen wie metaphorischen Sinn. Mögliche Referenzen zum Konzept „Mund-Propaganda“, bei der nicht verifizierte Gerüchte und wahllose Behauptungen verbreitet werden, tun sich hier auf. Es wirkt fast wie eine weitere Warnung, à la „glaub nicht alles, was du hörst“.

Realität ist auch nur eine Illusion

Die Probe aufs Exempel, kann das Publikum zur Klimax des Stücks machen, welches beweist, dass das das Werk nicht nur Tanz, sondern auch Gesang ‚in Echtzeit‘ zu bieten hat. Wenn Video-Künstler Alessandro De Matteis sich auf der Bühne positioniert und aus vollster Kehle den ikonischen Hit Creep der britischen Alternative Rockband Radiohead (1992) schmettert, erinnert sich vielleicht der eine oder andere an die Artikelüberschrift „Thom Yorke und die wahre Geschichte über Creep“, die Alessandro als wahren Urheber des Songs ausgibt und wie der Wahrheitsgehalt dieser Information durch die nächste Schlagzeile widerlegt wird, die seine Frau als das ‚wahre Genie‘ enttarnt.

„Rendered“ ermahnt uns unter Verwendung sämtlicher Mittel und Möglichkeiten, die Multimedia zu bieten hat, statisch festgesetzte Wahrheiten zu durchschauen und den Blick für Konstruiertes zu schärfen. Herausgekommen ist eine bis ins kleinste Detail ausgetüftelte Parallelwelt von Tobias Weikamp, Dwayne Holliday, Angie Taylor, Mogens Kragh und Alessandro De Matteis.

Die letzten beiden Vorstellungen sind am 3. und 4. Februar um jeweils 20 Uhr im Studio Trafique in Köln.