©Max Flaig

NACHTKRITIKEN ZUR PREMIERE VON MARION DIETERLE’S „CHICKS“ UND LENA FLAIG’S UND JOSEFINE PATZELT’S „ONE MUST STILL KNOW HOW TO DISAPPEAR“

 

ZWEI TANZ-DUOS, DIE WELTEN TRENNEN

 

NACHWUCHSCHOREOGRAPHIEN IN KÖLN

Von KLAUS KEIL

Zwei Tanz-Premieren von Nachwuchschoreographinnen bestimmten an diesem Wochenende das Bühnengeschehen der freien Tanzszene in Köln.
Bei Barnes Crossing (Freiraum für TanzPerformanceKunst) in der Wachsfabrik Sürth zeigte Marion Dieterle ihre Tanzproduktion „Chicks“, ein weibliches Duo um „aufgeregte Hühner, süße Küken und dumme Glucken“, das sie auch als eine Vergleichsstudie „Mensch vs. Huhn“ versteht.
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Zur gleichen Zeit fand in der TanzFaktur in Deutz eine weitere Premiere statt. Auch hier gab es ein weibliches Duo bei der Aufführung von „One must still know how to disappear“ von und mit den Tänzerinnen Lenah Flaig und Josefine Patzelt, die ihre Position zwischen „Entscheidungsmacht und Fremdbestimmung“ verorteten.
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Während die Premiere von „Chicks“ vor fast leeren Rängen stattfand (nur acht zahlende Gäste wurden gezählt), platzte die TanzFaktur an beiden Tagen vor ausverkauftem Haus aus allen Nähten. Freundlicher Applaus bei „Chicks“, frenetische Zustimmung bei „One must still know…“.

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Es waren zwei Stücke, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und damit die künstlerische Vielfalt und Qualität von Kölns freier Szene anschaulich demonstrieren. Haptisch und gegenständlich Dieterle, abstrakt und analytisch Flaig/Patzelt. Während Dieterle damit ihrer bisherigen Herangehensweise und Inszenierungsform treu blieb, stellten sich Flaig/Patzelt mit großem Erfolg der Herausforderung einer konsequent durchdachten, philosophisch basierten Gesamtinszenierung aus Tanz/Sprache/Sound und Licht.
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NICHT EINGELÖSTE VERSPRECHEN


Ich wollt´ ich wär´ ein Huhn, ich hätt´ nicht viel zu tun, ich legte vormittags ein Ei und abends wär´ ich frei… 1936 war das der Gassenhauer der Comedien Harmonists, platt und unpolitisch, dann von Max Raabe mit seinem Palastorchester mit ins 21. Jahrhundert genommen und zum Ohrwurm geworden. Da bedarf es nur eines Stichworts, um ihn zu reaktivieren: Chicks/Hühner. Da ist er wieder: Ich wollt´… Nein, sagt Marion Dieterle jetzt in ihrem Stück, Huhn zu sein, heißt das genaue Gegenteil, nämlich viel zu tun und ausgebeutet zu werden in seiner Legekapazität.
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Dazu setzt sie wie bisher auf Bewährtes und baut auf der Bühne ein Förderband zum Verpacken von Eiern. Waren es in vorherigen Stücken kleine Papphäuser, Spielzeugfiguren, allesamt haptische Gegenstände, mit denen sie sich immer knapp an der aufmerksamkeitsheischenden Welt des Kitsches vorbei bewegte, sind es in „Chicks“ Hühnerleitern, Eierkartons und -paletten und natürlich die Eier selbst. Das sieht sehr putzig und pittoresk aus, bleibt aber in seiner realen Verwendung und dem Umgang damit auf der Bühne weit hinter ihrem eigenen Anspruch zurück.

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HÜHNERDASEIN AM LEISTUNGSLIMIT


Massentierhaltung? Profitmaximierung? Natürlich gibt es die in diesem Sektor, doch auf der Bühne bleibt es beim Abpacken von Eiern und den per Hand vorangeschobenen Paletten auf dem simulierten Fließband. Komisch wird es, wenn Marion Dieterle und Emiliy Welther im Duo Eier legen, die allerdings aus dem Mund der beiden fallen. Und urkomisch, wenn beide den Kopf ins Gras stecken und mit einem Regenwurm im Mund wieder auftauchen. Sonst hat man leider nichts zum Lachen.
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Die Hühnerleitern werden mal hier, mal dort angelegt, dienen als Sortierfeld für Eier, werden geschultert und – wohl als Tanz gedacht – herumgewirbelt, gehoben, geschoben, gehievt, gesenkt und wieder abgelegt. Doch wirklich getanzt wird nicht, zumindest wenn man das Flügelschlagen der angewinkelten Arme nicht als solchen nimmt. Wie aufgescheuchte Hühner, den Oberkörper gebeugt, die Arme nach hinten gestreckt, flattern sie über die Bühne. Erst wenn sie ihr Federkleid aus Tüll abstreifen, die Metamorphose zum Menschen eingeleitet wird und sie in glitzernden, körperengen bodies wieder auftauchen, setzt das Duo zu einer tänzerischen Phase an. Die wird in ihrer Ausstrahlung völlig dominiert von der technischen Perfektion und tänzerischen Ausdrucksstärke der Emily Welther, die außerordentlich bewegungs- und tanzaffin selbst dem stolzierenden oder mit dem Hinterteil wackelnden Huhn noch Eleganz verleiht.
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Leider verheddert sich die Inszenierung zu oft in pittoresken Bildern, bleibt regelrecht darin stecken. Den kleinen Videoeinschüben gelingt es nicht, die Zielrichtung wieder aufzunehmen. Und den Anspruch, Räume zu eröffnen für „Interpretationen von gesellschaftlicher Spannweite“ erfüllt dieses kleinteilige Stück schon gar nicht.

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PACKENDER SPANNUNGSBOGEN BIS ZUM SCHLUSS
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Für das Duo Flaig/Patzelt war es die erste gemeinsame Choreografie. Eigentlich müsste man von einem Trio sprechen, denn eine männliche Stimme aus dem Off ist als fiktive Person ständig präsent und mischte sich beeinflussend auf Handlung und Tanz der beiden in das Stück ein. Wo Texte sonst nur illustrierend ein Stück ergänzen, gehört er hier inhaltlich unverzichtbar zum Stück. Inspiriert waren die Texte von der These des französischen Philosophen Eric Baudrillard vom Verschwinden des Menschen in der Gleichgültigkeit, ergänzt und zusammengestellt hatte sie Eric Eggert, der auch den angemessenen Sound dazu einspielte, und nachdrücklich mit markanter Stimme gesprochen von Ralph Günther.

©Max Flaig

Kann man denn eine philosophische Position vertanzen? Lenah Flaig und Josefine Patzelt zeigen eindrucksvoll, wie man choreografisch-tänzerisch damit umgehen kann. Dazu setzen sie am bekannten zeitgenössischen Bewegungsrepertoire an, das sie in diesem Stück zu einer Art Stop-and-Go-Bewegungssprache weiterentwickelt haben. Schon beim Einstieg in das Tanzstück wird anschaulich, wie das funktioniert und Inhalt und Tanz zusammengebracht werden.
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Das Stück beginnt mit offener Bühne. Während das Publikum seine Plätze einnimmt, sitzen die Tänzerinnen ganz entspannt, nur mit Slip und BH bekleidet, auf Stühlen. Ein sirrender, sirenenhaft rufender Sound, von Dröhnen begleitet, setzt an. Die Tänzerinnen beginnen, sich anzuziehen. Mitten in der Bewegung stoppen sie, der Körper erstarrt, um nach einem Moment verzögert in der Bewegung fortzufahren. Das wirkt wie kleine Aussetzer in der elektrischen Spannung, die gleich wieder behoben sind und die Energie weiter laufen lassen.
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Es setzt sich dann fort, wenn beide, langhaarig, blond, gleich gekleidet, sich wie die Kopie der anderen mit verzögerten Schrittänderungen, eingeknickten Körpern, den Armen in Vorbeuge zum Tanz auf der Bühne synchron bewegen, Ausbrüche versuchen, dabei ohne sichtbaren Kraftaufwand eine vibrierende Spannung aufbauen, die von der Stimme aus dem Off vorangetrieben wird und sich plötzlich durch ein Absinken des Körpers oder der Arme löst.

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DAS VERSCHWINDEN DER SICHTBARKEIT
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Haben Sie das erwartet zu sehen, fragt die Stimme an den Zuschauer gerichtet. Schließen Sie die Augen, weist die Stimme an, und alles um Sie herum wird verschwinden, doch nur aus Ihrer Sicht. Immer schneller und aggressiver peitscht die Stimme damit auch den Tanz voran. Der Zuschauer wird zum aktiven Teil der Inszenierung allein durch sein Sehverhalten. Im Flackerlicht eines Stroboskop verschwinden die beiden Tänzerinnen, tauchen nach einer kurzen Dunkelphase in einer Lichtgasse wieder auf, um sich in Slowmotion aus dem background aufs Publikum zuzubewegen. Die Stimme schließt das Set: „You can only remember a situation, no details, no story“.
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Lenah Flaig und Josefine Patzelt ist mit dem Team von Sound und Text (Eric Eggert/Ralph Günther) und Licht (Garief Kessler) ein faszinierend-spannungsgeladenes Tanzstück gelungen, das sich einer abstrakt-philosophischen Fragestellung überzeugend genähert hat. Aus der großartigen Zusammenarbeit aller ist ein kleines tänzerisches Gesamtkunstwerk entstanden.

©Max Flaig