URAUFFÜHRUNG DES TANZSTÜCKES „GHOST TRIO A – CORPS FURTIFS“ VON COCOONDANCE BONN IM RAHMEN DES BEETHOVENFESTES IM WORLD CONFERENCE CENTER BONN
Eine Nachtkritik von Klaus Keil
Es lag wohl an der Einbettung dieser Tanzproduktion in das Bonner Beethovenfest, dass das Publikum sichtbar anders und auch sichtbar älter war, als es der zeitgenössische Tanz sonst zu verzeichnen hat. Beethovens Klaviertrio D-Dur op. 70 Nr. 1, besser bekannt als das „Geistertrio“, als Grundlage für ein Tanzstück, das weckte offensichtlich hohe Erwartungen. Dass Beethoven letztlich nur die Matrix für die musikalische Ausgestaltung des Abends durch den Hauskomponisten des Ensembles, Jörg Ritzenhoff lieferte, wurde dem Zuschauer erst bewusst, als er immer wieder, mit sehnsüchtigem Blick auf die großartige Pianistin Beatrice Berrut am Flügel, vergeblich auf Beethovens bekannte Klavier- (und Streicher)klänge wartete. Stattdessen überraschte Ritzenhoff, der bereits seit zwölf Jahren mit CocoonDance zusammen arbeitet, das Publikum mit zeitgenössischen musikalischen Elementen, die möglicherweise die eine oder andere Note mit Beethovens Klaviertrio gleich hatten, aber letztlich eigenständig und sogar choreografiebestimmend waren. Ein derartig radikaler kompositorischer Umbruch von Beethovens Geistertrio war für das Publikum eigentlich nicht zu erwarten gewesen, doch das Erstaunliche trat ein: Ritzenhoffs Musik ließ eine geisterhaft gespenstische Atmosphäre entstehen, die das thematische Anliegen der Inszenierung stärkt und in Teilen auch vollständig trägt.
Um die mésalliance von Musik, Choreografie und Tanz gleichzeitig sichtbar, hörbar und „be“greifbar zu machen, wurde ein großartiges Raum-Environment geschaffen, dessen freie Anordnung dem Zuschauer vielseitige Perspektiven eröffnete, ja, ihn manchmal gar mitten ins tänzerische Geschehen hinein katapultierte.
Man betritt den Raum an der Stirnseite. Direkt im Blick hat man die drei Tänzer Alvaro Esteban, Daniel Morales und Werner Nigg, noch still und statisch ruhend. Über den Kopf Alufolie drapiert, die an Perücken aus Beethovens Zeiten denken lässt. Seitlich vor ihnen auf dem Boden ausgebreitete Hemden, die später gewechselt werden. Ein großer Konzertflügel im Hintergrund signalisiert Beethovens Mitwirkung. In zwei Instrumenten/Klang/Installationen werden die im Geistertrio unverzichtbaren, hier aber abwesenden Streicher visuell und ansatzweise auch akustisch simuliert. Dazu werden in der Installation eine Violine und ein Violoncello mit einem Tonbandgerät verbunden, dessen Tonspur in einer Endlosschleife nicht nur über den Tonkopf, sondern auch über die Saiten der Instrumente läuft. Alle musikalischen wie körperlichen Aktionen der Tänzer sind damit ständig mit einem flimmernden zirpenden Grundton unterlegt bzw. hinterlegt, der die Transzendenz des gesamten Bühnengeschehens unterstreicht.
Doch auch dem Tanz selbst wird ein großartiger Rahmen geschaffen: drei kleinere Zuschauerblöcke mit seitlichem oder frontalem Blick in den Raum, davor je ein Bildschirm, auf den mit Nachtsichtkamera Schemen und Schatten der Tänzer übertragen werden, die in einer unwirklich anmutenden Durchsichtigkeit durch den Raum zu schweben scheinen. Geht der Blick über den Bildschirm hinaus, sieht man die drei Tänzer real im Raum agieren. Wie in einem Vexierbild kann sich der Zuschauer damit seine eigenen erstaunlichen Momente, seine eigene Wirklichkeit schaffen. Ein ebenso gelungenes wie angemessenes Raumkonzept von Boris Kahnert, der mit Tobias Heide auch das Licht arrangierte.
In dieser Umgebung lässt Rafaele Giovanolas Choreografie die Tänzer zwischen Realität und Fiktion schwankend und schwebend tänzerisch oszillieren. Mal scheint es sie einander unwiderstehlich anzuziehen, dann wieder streben sie fluchtartig auseinander. Eben noch real und präsent verlieren sie auf dem Bildschirm ihre Körperlichkeit, scheinen sich aufzulösen, doch wohin? Schon im nächsten Moment, kaum sind sie der Perspektive der Nachtsichtkamera entronnen, tauchen sie mit neuen Bewegungen und einer neuen Idee von Leben wieder auf. Dann wieder scheint ihnen von einem ansteigenden musikalischen Grollen der Halt in der Realität entzogen zu werden. In halber Hocke rückwärts laufend verlieren sie Orientierung und reale Bezüge, landen auf dem Boden, um gleich auf den Knien durch den Raum zu rutschen, von den Fliehkräften des Lebens erfasst und aus dem eigenen Mittelpunkt geschleudert zu werden. Anschaulicher kann man die Ablösung von der eigenen Körperlichkeit nicht darstellen.
Entweder den Halt in oder den Fluchtpunkt aus der Realität muss sich der Zuschauer, wie so oft in den Tanzstücken von CocoonDance, dabei selbst suchen. Wieder einmal wirft Dramaturg Rainald Endraß mit seinem philosophisch fundierten Gesamtkonzept Fragen über Fragen auf. Der Tanz als reine Darstellungsform wird in diesem Konzept weit überschrittenund ihm gar existenzielle Aufgaben bei der Lebensanalyse und -bewältigung zugewiesen. Hier zeigen sich auch die Berührungspunkte zu Samuel Becketts „Ghost Trio“, von dem sich diese außergewöhnlich stark berührende Inszenierung inspirieren ließ. Ein starkes Stück.