TanzSoloFestival Bonn 2023

Spannende Seiltanz-Geografie     

„Ice“ von und mit Bahar Temiz beim Internationalen Bonner Tanzsolofestival

 

Von Elisabeth Einecke-Klövekorn

Eine Frau im semitransparenten weißen Laboranzug wandert, schreitet, rennt um einen großen weißen Kreis. Das Publikum im Forum der Bundeskunsthalle, die am 17. März erstmals Gastgeberin einer Vorstellung des Internationalen Bonner Tanzsolofestivals war, sitzt im Saal oder auf der Bühne hinter dieser runden Fläche. Nach einer Weile betritt die Kundschafterin die wie Eis anmutende Fläche, leise Knirschgeräusche signalisieren deren Brüchigkeit. Aus miteinander verknüpften Seilen, robusten Tauen und blauen Schnüren formt die Tänzerin eine Art Landkarte, die wie der antarktische Subkontinent erscheint.

Die aus Istanbul stammende, in Frankreich und den Niederlanden ausgebildete Tänzerin und Choreografin Bahar Temiz hat sich von den dramatischen Antarktis-Expeditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu ihrer Solo-Performance „Ice“ inspirieren lassen. Die riesige Eiswüste um den Südpol erschien damals als der letzte noch zu entdeckende – und zu erobernde – Teil der Erde. Im Hintergrund sind die Berichte von Robert Scott, seinem Rivalen Shackleton und Roald Amundsen zu hören. Der Norweger gewann Ende 1911 schließlich den Wettlauf um das Erreichen des Südpols. Scott und seine Begleiter kamen wenig später bei einem Schneesturm um. Von Hunger, Kälte, Erschöpfung, erfrorenen Gliedern und Blendung durch die brennende Sonne ist die Rede. Temiz illustriert das nicht und macht daraus schon gar kein Heldenepos. Sie fragt nach dem Antrieb zur Erforschung fremder Gebiete und nach der möglichen Interaktion des eigenen Körpers mit einer lebensfeindlichen Umgebung. Auch nach den Veränderungen natürlicher Strukturen durch menschliches Eingreifen und der aktuellen Gefährdung der geschützten Polarregionen, die rund ein Jahrhundert nach ihrer Exploration längst der touristischen Vermarktung ins Netz gefallen sind.

Temiz zieht die Strippen fort von der weißen Wüste und lässt sie wieder unberührt erscheinen. Dann markieren dünne Kabel plötzlich Splitterspuren im glatten Eis. Die Tänzerin baut sich aus Schiffstauen eine Art schützendes Nest am Rand, in dem sie sich jedoch selbst gefangen nimmt. Sie steigt aus und lässt die Seile in immer schnelleren Drehungen wie in meditativer Trance um ihren Körper wirbeln. Mal steckt ihr Kopf in einem Kokon aus dicken Stricken, mal schlingen sich die Kordeln wie Fesseln um ihren Leib und schnüren die Bewegungen ein bis zum atemlosen Stillstand. Mal wird sie festgehalten von an beiden Seiten der Bühne verankerten Leinen und schwingt daran wie schwerelos über den Boden. Ein vertikal von der Decke hängender Strick gibt mitunter einen Vertrauensvorschuss im ständigen Kampf zwischen Befreiung und Einengung. In der Mitte der weißen Fläche erscheint ein blau leuchtender Kreis wie der ersehnte Pol oder ein alle Sicherheiten auflösendes Schmelzwasser.

Die buchstäblich filigrane, rund einstündige Performance verweigert konkrete Botschaften etwa zum Klimawandel. Sie zeigt ohne emotionales Pathos in starken Bildern die Energie eines einzelnen Körpers im brutalen Taumel der Elemente und der zunehmenden Fragilität seiner Umwelt. Es geht dabei weniger um tänzerische Virtuosität als um die Erforschung einer Geografie der humanen Existenz. Es ist ein hochspannender, vieldeutiger Seiltanz ohne zirzensische Kunststücke, aber mit instabiler Bodenhaftung. Physische Sehnen und immaterielle Sehnsucht verbinden sich in einem irritierenden Zusammenspiel.

Die deutsche Erstaufführung von „Ice“, gefördert von der Koninklijke Vlaamse Schouwburg Brüssel, zu deren Ensemble Bahar Tamiz derzeit gehört, machte neugierig auf weitere Expeditionen der Künstlerin.

©Bahar-Temiz-TRBE-Ice

©Bahar-Temiz-TRBE-Ice