Remembering Tomorrow – GLOBALIZE:COLOGNE 2012 IST ERÖFFNET
photo: Klaus Dilger

Das diesjährige Festival Globalize:Cologne vom 14. bis 18. November nimmt sich Zeit für Thesen und Gespräche, Workshops und kleine Aufführungen der Kunstformen Tanz, Performance, Schauspiel. Mit Gästen aus Tunesien, Libanon, Venezuela, Indonesien, USA und Belgien gibt es sich globaler als je zuvor.

„Eine doppelte Eröffnung“, betitelt André Erlen den Abend. Der Ko-Leiter des Theaterensembles futur3 meint den neuen Produktions- und Organisationsort des Netzwerks Freihandelszone in der Krefelder Straße Nummer 71 unweit des Hansarings, und nach acht Jahren der Zonenexistenz öffne sich diese für öffentliche theoretische Diskussionen, ein international bestücktes Symposium samt kleineren Bühnenpräsentationen: Die diesjährige Ausgabe ihres Festivals „Globalize: Cologne“ schlägt wieder einen ungewöhnlichen Haken.

Der soll sich programmatisch in die Zukunft bohren. „Remembering Tomorrow“. Ein dickes Brett oder ein wabbelnder Pudding? Dieser erste Abend widmet sich dem Tanz, und zwar seiner würdigen und fragwürdigen Erinnerung und dem gegenwärtigen Umgang mit ihr, der irgendwie in die Zukunft weisen könnte. Die erste Performance ist eine Podiumsdiskussion an einem veritablen Esstisch; in dem ehemaligen Ladenlokal lauschen sechzig Besucher, darunter viele Tanz- und Theaterkollegen. Zur zweiten Vorführung durchquert das Publikum den Hinterhof voller leerer Waschmaschinen und lässt sich in dem neuen Probenraum der vier Netzwerkensembles nieder, der nach frischem Tanzteppich riecht. Gummi. Wir sehen einen Probenausschnitt aus dem noch entstehenden Werk der Choreographin Stephanie Thiersch, Netzwerkmitglied, das sich mit dem Erinnern von Tanz beschäftigt. Wie es die Diskussion davor auffächerte  – oder betrachtet man es deshalb so? – , werden hier persönliche Gedächtnissplitter aus Text und Bewegungen verbunden mit überpersönlichen, kollektiv gewordenen oder zur Historie erklärten Erinnerungen. Der Tanz ist auch nicht mehr das, was er mal war. Oder doch? Und was war er eigentlich? Was werden und wollen wir übermorgen noch davon wissen?

Was geht uns das Getanze von gestern an?

Die Vergangenheit hat in der zeitgenössischen Tanzszene momentan ein wenig Konjunktur. Ob aus Besorgnis um Verluste oder Ärger um die vielen neu erfundenen Räder auf den Bühnen oder aus Lust am schonmal Dagewesenen, sei dahin gestellt. Stephanie Thiersch sagt, „ich interessiere mich für die Idee einer alternativen Tanzgeschichtsschreibung“. Deshalb lud sie zu diesem eröffnenden Symposium ein; ihre Netzwerkkollegen von Futur3, vom Theater 51grad.com und vom Atonal-Theater gesellen dem in den kommenden Tagen unterschiedliche Künstler dazu, die sich per Tanz, Schauspiel oder Medienkunstperformance mit dem Verlauf von Zeit, mit Wiederholungen und den Nachwirkungen von Vergangenem in der Gegenwart beschäftigen. Ihre Workshops sind gut besucht, ist zu hören, die Kurzaufführungen geben ihren Ideen schonmal Gestalt, wie diejenige von Stephanie Thiersch in dem neuen kleinen Studio der Freihandelszone.

Vorab erklärt sie, dass die Beteiligten bei einer Residenz in Portugal drei Tage diskutierten, Erinnerungen sammelten und mit der Rolle der Fantasie beim Erinnern spielten. Die kurze Trio-Performance verstrickt: Videobilder, Aufnahmen von Stimmen aus dem Off,  Aufnahmen, welche nur die Tänzer über Ohrstöpsel hören wie Einflüsterungen, hörbares Sprechen und leibhaftiges Tanzen. Die Texte erzählen von einer aufgeregten Suche nach Blumen für Tänzer, von einer „sie“, die in Oldenburg getanzt hat und nun etwas versuchte zu tun, was sie vor dreißig Jahren mal gut konnte, von einer, die mal Star bei Stuttgarter Ballett war, Kanadierin, „sie war wie ein Blitz von einem anderen Planeten“, „mit so einer Komplexität von Bewegungen“. Die „Achtziger“, „Montpellier“, „Judson Church“ kommen vor, Einsprengsel, an denen man erkennt, dass es sich hier um ein Sammelsurium von persönlichen Geschichten und Begriffen aus einer Art offiziellen, heroisierenden Tanzgeschichte handelt. Doch kein Name fällt. Ein Suchspiel also oder eine Ironisierung des Meta-Habitus.

Tänzerin Viviana Escalé kriecht am Boden, stöhnt mit geöffneten Knien wie eine Gebärende, knickt die Hüfte ein, grinst, poltert, Tommy Noonan macht lange Arme, klatscht auf die Oberschenkel, was einen irgendwie an Forsythe-Choreographien erinnert. Wenn er mit herausgedrehten Unterarmen gegen die Wand läuft, zitiert er offensichtlich Pina Bausch in „Café Müller“. Sie drücken sich aneinander, ziehen an der Haut wie weiland bei Jerôme Bel und Sasha Waltz, drehen die Hände zu Blüten. Aha: Akram Khan. Sie zittern. Das gibt’s inzwischen in jeder Choreographie. Der ehemalige Kritiker Guy Cools sitzt kritikerhaft auf einem Stuhl, die Tänzer reiben sich auf. Mit ihnen wird Tanzgeschichte „gemacht“, damals wie heute; hier sieht man ihnen einen Hauch Distanz an: das Ausführen fremder Gedanken. Vielleicht wird das fertige Stück ja bei aller Vergangenheitsrecherche die stets aktuelle Frage nach der Präsenz, der Gegenwart stellen: Was tut ein Tänzer, und wer ist er in dem Moment mit diesem Körper?

Doch die Rückbesinnung ist wichtig, wenn auch immerzu fragwürdig. Bei der Podiumsdiskussion weist Gerald Siegmund, Theater- und Tanzwissenschaftler an der Universität Gießen, auf die beiden Wege hin: Der flüchtigen Tanzkunst, die kaum Notation, Text, Partitur kennt und meist mündlich-körperlich tradiert wird, ein Gedächtnis per Archivierung und Rekonstruktion geben und damit auch ihre gesellschaftliche Wertschätzung erhöhen. Oder: Statt so zu tun, als könne man ein Original wiederherstellen, solle man spielen, mit Fragmenten: den Wert des Vergangenen erforschen, indem man seine Beziehung zu uns heute ausprobiert. Aus einem „Nicht-Wissen“ heraus, das kanonisch vorsortierte Wichtigkeiten in Frage stellt und so „enthierarchisiert“.

Auch Guy Cools, der ebenso wie Siegmund früher als Tanzkritiker gearbeitet hat, aber dann in die Dramaturgie gewechselt ist, beschwört bei der Diskussion die Lücken. Das Vergessen. Aus der Lektüre diverser Wissenschaftler zum Gedächtnis und der Erfahrung mit Tänzern schließe er auf den Wert des Loslassens von Vergangenem und Gelerntem, um herauszufinden, was übrig bleibt. Das gebe die Freiheit, etwas wieder zu finden und diesem dann Wert zuzuschreiben. Das klingt weise, aber auch ein wenig wohlfeil. Omar Rajeh aus Beirut spricht an dem Podium von der „Existenzfrage“: „Wie leben wir heute mit den unterdrückten Erinnerungen?“ Der Bürgerkrieg in seinem Land ist nicht lange her und sei in gewisser Weise immer noch präsent. Inwiefern präsent, präsent in den Körpern?, fragt der Choreograph in seinem neuen Bühnenstück, das im Frühjahr 2013 Premiere haben wird. „Und jetzt?“ Sigrid Gareis von der Akademie der Künste der Welt schwieg während der diversen Statements über ihre Brille hinweg und ruft am Ende dazu auf, „die Essenz zu entwickeln“, „Notwendigkeiten“ zu erkennen. Was trägt man also hinaus? Natürlich löst so eine Diskussion nicht die Probleme der zeitgenössischen Tanzkünste und ihrer zu Unrecht marginalisierten gesellschaftlichen Position. Es gibt keinen Königsweg. Aber dass man sich gemeinsam mit interessierten Zuhörern mal Gedanken macht um ein paar grundsätzliche Dinge, ist ein Gewinn für die Szene der freischaffenden Bühnenkünstler.

MELANIE SUCHY

Programm unter: http://www.freihandelszone.org