Ayelen Parolin beim MOVE! Festival in Krefeld mit

„AUTOCTONOS II“

Ursprung ist nicht alles

Die Choreographin Ayelen Parolin untersucht Glück und Gewalt einer Gruppe

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Nachtkritik von René Linke

Am Anfang sehen wir im weißen Raum nur vier Schemen. Aber wir hören es, ein sandiges Geräusch, Füße scharren über den Boden: Eine viertel Drehung auf dem Fußballen, Knie, Hüfte, Schultern werden mitgenommen, auch der Kopf mitgerissen. Immer wieder, zusammen, es hört nicht auf. Langsam kommt Licht dazu, langsam steigt Lea Petra am präparierten Klavier ein, nimmt den Rhythmus auf. Ein Rhythmus, der uns die nächsten 50 Minuten begleiten wird, treibend, fordernd, unerbittlich. Wiederholung ist die DNA jeder Gruppe.

Es ist die vierte Produktion, die jetzt im Rahmen von „move – 18. Krefelder Tage für modernen Tanz“ in der Fabrik Heeder zu sehen war – ein bislang äußerst abwechslungsreich und vielstimmig kuratiertes Festival. Wenn etwa der Opener „Il dolce domani“ herzbewegend nostalgisch Erinnerungsräume öffnete oder CocoonDance uns mit „Ghost Trio B“ mit unheimlichen Geisterwesen konfrontierte – so ist „Autoctónos II“, die Arbeit der gebürtigen Argentinierin Ayelen Parolin, sicherlich die bislang konzentrierteste, vielleicht auch abstrakteste Produktion. Auf jeden Fall die faszinierendste.

Pressebilder-Ayelen-Parolin_AUTOCTIONOS-II©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Parolin erzählt keine Geschichte, illustriert keinen Zustand – sie dekonstruiert. Sie sucht nach Widersprüchen, nach Widerständen, nach verdeckten Wunden in der Sache. Und so mathematisch – Zahlen schwirren durch die Luft -, so abstrakt die Choreographie daher kommt, der Zuschauer sucht mitgerissen die konkreten Kipppunkte: Wann ist die erste individuelle Geste sichtbar? Wann löst sich die Formation auf? Wann wird der äußere Rhythmus zur inneren Lebensform? Treibt das Klavier – und die Komponistin Lea Petra ist an den Tasten ein beeindruckender Berserker -, treiben die Rhythmen die Spieler an oder ist die Musik nur ein Spiegel der inneren Dynamik? Und wann letztendlich schlägt der innere Zusammenhalt um in die kriegerische, gewaltvolle Ausgrenzung?

Pressebilder-Ayelen-Parolin_AUTOCTIONOS 2©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Denn im letzten Drittel, wenn der barbarische Rhythmus längst auch in alle Zuschauer-Körper gedrungen ist, wechseln Daniel Barkan, Jeanne Colin, Mark Iglesias und Gilles Noèl zu Kampfposen. Mit letzter Kraft, denn was „Autoctónos II“ den TänzerInnen an Ausdauer, Akribie und Akkuratesse allein körperlich abverlangt, erinnert an die Performances von Marina Abramovic. Zum Schluss bleibt die Gewalt, die Abwehr, die Grenze.

Solchen Ambivalenzen nachzugehen, das macht den Schrecken und die Schönheit, den Furor und die Faszination dieser Produktion aus. Denn nicht nur der Gewaltspur wird in „Autoctónos II“ nachgegangen, sondern auch der Verschmelzungslust, der Ich-Entlastung, die in so einer Gruppenbildung immer auch steckt. Schon das Autochtone, das Ursprüngliche ist ambivalent. Der Ursprung zeigt den Anfang, die Quelle an, zugleich aber eben auch den ersten Sprung daraus. Ein wichtiger Gedanke in einer Zeit, in der es vor Ursprungsdenkern und Identitätssuchern nur so wimmelt. „Autoctónos II“ macht solche Ambivalenzen auf ebenso beeindruckende wie begeisternde Weise augen- und sinnfällig. Das kundige Krefelder Publikum dankte es mit frenetischem Applaus.

Pressebilder-Ayelen-Parolin_AUTOCTIONOS 2©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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