Shailesh Bahorans „Aghori“ zum Festival-Finale von „Move!“

Eine Nachtkritik von Bettina Trouwborst

 

Der Guru sitzt lange im Dunkeln. Der alte Mann hockt in seinem mönchskluftartigen Umhang am Boden, den Rücken zum Publikum, und blickt in den Nebel auf einen Hügel, der sich im Hintergrund abzeichnet. Es dauert ein Weilchen, bis sich auf der Anhöhe die schemenhaften Umrisse von Gestalten zeigen. Als es endlich hell wird, entpuppt sich der Berg als Schräge – für ein Hiphop-Ensemble die deutlich interessantere Spielwiese. Die mutmaßlichen Dynamiker allerdings hocken als blass geschminkte Ur-Menschen da, den Kopf tumb nach unten gerichtet. Ihre Oberkörper sind nackt, Bärte und Haare verfilzt. Die lautmalerische Klangcollage aus Knarzen, Klirren und anklingendem Hohngelächter passt vortrefflich zu diesem etwas unheimlichen Panoptikum der halbnackten Wilden. Als einer von ihnen aufsteht und sich wie eine Comicfigur auf der Schräge bewegt, ist man ganz irritiert von dem Stilbruch. Als würde der Choreograf Shailesh Bahoran mit ironischer Distanz auf sein Sujet blicken: die spirituelle Hingabe in seiner hindustanischen Kultur.

Sein Tanzstück „Aghori“ trägt eine 1000 Jahre alte, radikale Hindu-Sekte im Namen, die Erleuchtung im Brechen von Tabus sucht. Die Sektenmitglieder trinken aus Totenköpfen, essen Leichen, haben Sex mit toten Frauen. Davon hat der junge Hiphop-Tanzkünstler aber nichts auf die Bühne gebracht. Er zeigt eine archaische Gemeinschaft und ihre Rituale, die sich allerdings mit ihrer kryptischen Symbolik zu weiten Teilen nicht erschließen. Deshalb ist „Aghori“ in seiner Andersartigkeit befremdlich und interessant zugleich. Zum Festival-Finale von „Move! – 16. Krefelder Tage für modernen Tanz“ war die Vorstellung ausverkauft – einige Zuschauer saßen sogar auf der Galerie. Und es wurde lebhaft applaudiert.

Shailesh Bahoran ist ein auffallendes Talent. Nach seiner Karriere als Breakdance-Virtuose entwickelte er sich zum gefragten Tänzer und Choreografen, arbeitete sogar mit den niederländischen Nationalballett. Seit 2011 ist der Künstler indischer Abstammung mit der Crossover Company Ish verbunden. Mit Ish-Tänzern erarbeitete er auch „Aghori“ in dem niederländischen Produktionszentrum Korzo in Den Haag.

Bahorans Tanzsprache kann mehr als Hiphop – sie erweitert ihn in eine theatrale Richtung. Es ist faszinierend, wie er einerseits diese rohe, offensichtlich debile Gemeinschaft, die sich gegenseitig stößt, schlägt und schubst, als unzivilisierte Horde charakterisiert: Sie krabbeln behände herum, gehen aufeinander los, hocken mit leerem Blick da, schlagen sich wie Affen auf die Brust. Lediglich der Guru nimmt eine stolze Haltung ein. Er kontrolliert seine Anhänger mit ziselierten Handgesten. Andererseits es gibt auch elaborierte, geometrische Formationen, meditative Artistik und entschleunigten Breakdance. Die Gruppe rollt vertikal die Schräge entlang oder bildet eine bewegte Linie auf der Schräge. Am schönsten ist ein Duett, bei dem immer ein Tänzer mit Körper und Gliedmaßen einen Durchgang bildet und der andere sich elegant hindurch bewegt – um seinerseits wieder eine Öffnung zu bilden. Da sind auch starke Hiphop-Tanzszenen, die einem schlanken jungen Farbigen vorbehalten sind. Er zittert, wirkt ängstlich und verstört. Nie wird der Tanz bei Shailesh Bahoran zum Selbstzweck. Nur hätte man sich gerne deutlich mehr davon gewünscht.

Denn die meiste Zeit über lungert die Gemeinschaft in kleinen Grüppchen unmotiviert herum. Was „Aghori“ und seinem Schöpfer fehlt, ist ein Dramaturg, der die szenischen und choreografischen Ideen strukturiert.

Impulse setzt gelegentlich der Guru mit seiner schnarrenden Sitar, zu der er in einer fremden Sprache singt und spricht. Er schaut zu, wenn der einzige ungeschminkte Tänzer sich mit dem Hiphopper diverse Kämpfe liefert. Offenbar schlägt er sich gut, denn am Ende wird er in einem Initiationsritual von dem Guru und den anderen weiß geschminkt und in deren Sekte aufgenommen. Anschließend ringt man gemeinsam um Erleuchtung, gestikuliert völlig asynchron, blickt gen Himmel. Und wuselt wieder in Grüppchen herum. Im Finale waschen die Männer, nachdem sie die Schräge erklommen haben, oben ihre Gesichter sauber. Was auch immer das bedeuten soll.

Etwas irritiert, aber auch angeregt von dieser fremden Kultur, verlässt man nach einer guten Stunde das Theater. Was vor allem bleibt, ist der Wunsch, von diesem Choreografen bald mehr zu sehen.