MOVEinTOWN in Krefeld

CHORA: Körper – Raum – Erfahrung

CocoonDance bringt mit „Chora“ eine Choreografie der Koexistenz an den Südbahnhof

Wer am Abend des 28. Juni das „Werkhaus“ betreten wollte, musste zuerst auf sein Dach steigen – genauer: auf den verlassenen Bahnsteig des alten Südbahnhofs. Dort, zwischen dem Blick auf Moschee einerseits und Hauptbahnhof andererseits, eröffnete sich den Besucher:innen eine neue Perspektive: hoch über der eigentlichen Spielfläche, auf einer Zuschauer Tribüne mit Fernblick. Schon hier begann das Verlernen des Gewohnten – und das Staunen.

Denn dieser Zugang, diese Umkehrung der üblichen Theaterwege – nicht der Weg über Stufen hinauf, sondern hinab ins Ungewisse – markierte mehr als eine architektonische Eigenheit. Sie war Einladung und Irritation zugleich. Über zwei schmale, steile Treppen stieg das Publikum in einen Raum hinab, der sich dem Vertrauten verweigerte: Keine klare Bühne, keine festen Sitzplätze, kein sicherer Rahmen für die erwartbare Inszenierung.

Der Begriff „Chora“, dem das Stück seinen Titel verdankt, stammt aus Platons Schriften. Er bezeichnet jenen merkwürdigen dritten Raum, der weder Sein noch Werden ist, sondern beides umfasst – ein Zwischenbereich, durchlässig, aufnehmend, offen für Wandlung. Kein „Topos“, kein fester Ort, sondern ein Möglichkeitsraum.

In der Krefelder Version von CHORA, eigens für die Reihe MOVE!inTown konzipiert, wurde der alte Bahnhof so zu einem Resonanzkörper für eine andere Art von Bewegung: nicht die des Transits, sondern die des Innehaltens. Nicht Fortbewegung, sondern Durchlässigkeit. Keine Ankunft, sondern Übergang.

CocoonDance forderte das Publikum nicht nur auf, sich vom Tanz bewegen zu lassen – es sollte selbst Teil einer Bewegung werden, die im Moment entstand: zwischen Körpern, Blicken, Klängen und räumlichen Verschiebungen. Eine Choreografie der Koexistenz, wie sie offener kaum gedacht sein könnte.

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

„Ganz neu ist das Konzept, den theatralen Raum aufzulösen, freilich nicht“, stellte Thomas Linden bereits 2023 in seiner Erstbesprechung fest. CocoonDance selbst hat diese ästhetische Praxis immer wieder erkundet – etwa 2018 in Ghost Trio, einer Inszenierung von bemerkenswerter Dichte, in der sich die Begegnung von Publikum und Ensemble zu einem fast verstörend intimen Ereignis verdichtete.

Tatsächlich hat der Tanz in der freien Szene längst installative Züge angenommen. Das Umherschlendern um die Performer:innen gehört vielerorts zur Choreografie dazu – weniger als dramaturgische Notwendigkeit, sondern fast schon als Ritual. Allzu oft allerdings bleibt diese Mobilität des Publikums folgenlos: Die Inszenierungen sind so statisch gebaut, dass sich ein Ortswechsel kaum lohnt – man sieht nicht mehr, nur anders.

Nicht so in CHORA. Hier bewegen sich die Körper mit wechselnder Geschwindigkeit durch den Raum – leichtfüßig, präzise, mit einem physischen Ernst, der Aufmerksamkeit erzwingt. Wer sehen will, muss sich bewegen. Die visuelle Wahrnehmung verlangt nach Abstand, nach Positionierung, nach Entscheidung.

Dramaturg Rainald Endrass liest diese Konstellation als Bild für unsere Gegenwart: eine Welt ohne fixe Standpunkte, ohne einfache Lösungen. Wer sich nicht bewegt, verliert die Orientierung. Veränderung wird zur Voraussetzung für Teilhabe – im Theater wie im Leben.

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

In Krefeld entfalteten sich die Bewegungsstränge zunächst zögerlich, tastend, fast scheu. Das mochte auch daran liegen, dass CocoonDance in dieser Fassung erstmals Laien in das Geschehen integrierte – Körper, die sich äußerlich wie in ihrer Bewegungspraxis kaum von den umstehenden Zuschauer:innen unterschieden. Was wohl als sensible Brücke gedacht war – als Geste der Öffnung, des Mitgemeintseins –, erwies sich über weite Strecken als ein Moment der Unschärfe. Erst als die körperliche Präsenz des professionellen Ensembles an Intensität gewann, sich Raum nahm und Kontur, löste sich diese Unterscheidung allmählich auf – und verschwand schließlich gänzlich im Fluss des Geschehens.

In früheren Fassungen hatte eine ausgeklügelte Lichtdramaturgie Räume modelliert – Schatten geworfen, Inseln der Stille eröffnet, Orientierung geboten. In Krefeld jedoch waren die Performer:innen auf sich gestellt: Das Tageslicht fiel ungefiltert durch die hohen Fenster, ließ keinen Schutz zu, kein Spiel mit Sichtbarkeit. Nur der Klang – präzise gesetzt, in seiner Vielfalt zwischen Impuls und Atmosphäre oszillierend – bot ein Gegenüber.

Für diesen akustischen Raum sorgten Jörg Ritzenhoff und Franco Mento. Ihr Sounddesign spannte einen Bogen vom plötzlichen, fast körperlich spürbaren Klangstoß bis zur immersiven Tiefe eines imaginären U-Boots. Was wir als Stimmung erleben, sitzt nicht nur in den Augen – es sitzt im Ohr. Und mit dem Klang verschiebt sich unsere Wahrnehmung, unsere Haltung zum Raum, zu den Körpern, zur Zeit.

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Die Produktion von Cocoon entwickelt eine schöne Klaviatur der Emotion im Zusammenspiel von Tanz, Licht und Musik, die man lustvoll in einem von Konventionen befreiten Raum erleben kann. Man fragt sich allerdings unwillkürlich, wie die Fortsetzung dieser theatralen Entfesselung aussehen würde. Auch andere Kompagnien – wie etwa die United Cowboys aus den Niederlanden – haben mit diesem Ansatz schon experimentiert. In Bonn befinden sich Akteure und Betrachter auf Augenhöhe, aber was würde geschehen, wenn sie sich auch in die Augen schauen würden? Cocoon hat immer wieder mit dem Spiegelmotiv gearbeitet und in „Chora“ existiert eine Art unsichtbarer Spiegel, wenn Tanz und Publikum aufeinander reagieren. Aber wo müssten die nächsten Schranken überwunden werden, um mit der Sprache des Tanzes Erkenntnis über unsere Beschaffenheit als gesellschaftliche Wesen zu gewinnen?“

Die Krefelder Fassung konnte diese Fragen nicht beantworten – vielleicht auch, weil sie noch im Modus des Versuchs agierte. Das Experiment, Laienkörper mit einzubinden, blieb tastend und hätte wohl mehr Zeit, Nähe und choreografische Arbeit benötigt, um tragfähige Brücken zu bauen.

Und dennoch: Das Publikum am zweiten Premierenabend war spürbar bewegt. Der lang anhaltende Applaus galt allen Beteiligten – professionellen wie nicht-professionellen Performer:innen. Auch ein anderes Ziel von MOVE!inTown wurde erfüllt: Die Einladung, vertraute Orte – wie den alten Südbahnhof – auf neue Weise zu erfahren, sich tanzend durch Unbekanntes führen zu lassen, wurde mit Neugier angenommen.

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

CHORA_Krefelder-Fassung_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger