Fabien Priovilles „How do you fear“ bei Move!“ in der Fabrik Heeder

Eine Nachtkritik von Bettina Trouwborst

Furchterregende Schreie dringen durch die Dunkelheit. Als würde eine Frau geschlagen. Dann ein Wimmern, ein Kreischen, ein Glucksen. Als würde ein Gespenst gefoltert. Hinter einem schwarzen Vorhang huscht etwas hin und her, stößt aggressive Kampflaute aus. Ein bisschen gruselig beginnt Fabien Priovilles neues Tanzsolo „How do you fear“ schon. Kurz nach der Uraufführung im Tanzhaus NRW in Düsseldorf gastierte es beim  Festival für zeitgenössischem Tanz „Move!“ in der Krefelder Fabrik Heeder.

Ur-Ängste vor dem Unbekannten in der Dunkelheit aus früher Kindheit regen sich, aber auch Erinnerungen an gute alte Hitchcock-Krimis. Doch Priovilles Tänzerin, die hinter der schwarzen Stoffbahn hervorkommt, ist selbst von Angst gepeinigt, ja, sie ist besessen davon wie von einem Dämon. Ihr Körper schlackert, sie irrlichtert panisch über die Bühne.

Die Angst als gesellschaftliches Phänomen hat sich der französische Choreograf, der seine Themen gerne dem Zeitgeist abguckt, diesmal vorgenommen. Zuvor hatte der ehemalige Tänzer des kanadischen Turbo-Ensembles Lalala Human Steps und des Tanztheaters Wuppertal sich vor allem in Stücken über Egoshooter, Smartphones und Chatrooms mit neuen Kommunikationstechnologien beschäftigt. Nun also die zutiefst verunsicherte Gesellschaft: Terror, Kriegsgefahr, Flüchtlingswelle, Naturkatastrophen – die westliche Welt schläft nicht mehr so ruhig wie noch vor 20 Jahren. Dieses kollektive Angstgefühl verkörpert Gesa Piper – ein beeindruckendes neues Gesicht  in der freien Tanzszene. Prioville schickt sie auf einen  Horrortrip, der das hohe Niveau des Einstiegs allerdings nicht über die ganzen knapp 60 Minuten halten kann.

Für die mächtigen Mechanismen der Angst und ihre Auswirkungen auf Körper und Seele findet Fabien Prioville facettenreiche Bilder auf visueller, akustischer und sensorischer Ebene. Allein die elektronische, suggestive Soundcollage erzeugt ein Gefühl von permanenter Bedrohung, was sich in der zweiten Hälfte des Stückes steigert durch wiederholte, den Zuschauerraum leicht erschütternde Explosionsgeräusche – oder sind es Maschinengewehrsalven? Da denkt man schon an einen Psychothriller, wenn Gesa Piper da ein Schlaflied ins Mikrofon singt und sich die Unterarme bandagiert. Zwischendurch nimmt der Choreograf die Spannung, ganz wohltuend, zurück, lässt die Solistin philosophieren über die körperlichen Symptome von Angst. Allerdings dosiert er den verbalen Anteil, was für das gesamte Stück gilt, zu hoch: Gesa Piper gerät immer wieder ins Schwadronieren. Damit büßt ihre starke Performance einiges von ihrer Magie ein.

In Boxer-Kluft zieht die Besessene in den Kampf – gegen sich selbst und damit gegen ihren inneren Dämon. Stößt animalische Laute aus, gebärdet sich wie eine rasende Tanz-Bestie. Eine Sirene heult auf, Nebelschwaden dringen auf die Bühne. Pieper hält eine Projektionsfläche vor ihren Körper, auf dem eine zerbombte Stadt, vermutlich in Nahost, zu sehen ist. Diese Fläche dient ihr auch als Schutzschild. Die Melodie einer Spieluhr erklingt, was in dieser von Angst dominierten Psycho-Welt nichts Gutes heißen kann: Die Haare über den oberen Rand geworfen, mit den bandagierten Armen die Leinwand vor den Oberkörper haltend, wirkt sie wie eine Geisel, von ihren Erpressern für ein Video inszeniert.

Spannungspotenzial birgt auch das Setting. Hinter dem schwarzen Vorhang im Hintergrund, wohin die Tänzerin immer wieder verschwindet, ahnt man ein Labor des Bösen. Dieses Geheimnis lüftet Fabien Prioville in einer weiteren starken Szene. Der Vorhang öffnet sich so, dass er die Silhouette eines Häuschens in der Mitte bildet und den Blick auf ein gemütliches Kissen-Lager freigibt. Hier also traktieren die Tänzerin ihre Albträume. Denn rechts und links flirren Bilder unkontrollierbarer Angstszenarien auf dem Vorhang: ein agierender Zahnarzt aus der Perspektive des Patienten oder Schlangen und Haie in einer Unterwasserwelt. Auch schön: Einmal wickelt sich die Tänzerin in den Vorhang wie in eine Burka ein.

Über diese Flut szenischer Einfälle verliert Prioville das Spukige, das anfangs ein roter Faden schien, aus den Augen. Das ist bedauerlich, denn es verleiht der Produktion eine sanfte, die harte Realität abfedernde Ironie. Nur noch einmal taucht es noch auf: Wenn die symbolträchtigen Bandagen, ein einsames Häufchen auf der Bühne, mit einer speziellen Projektionstechnik so angestrahlt werden, dass sie  wie lebendig wirken. Ja, man meint, ein zauberisches Flackern wahrzunehmen. Von diesem „Live Projection Mapping“ hätte man gerne mehr gesehen.

Überraschend versöhnlich gibt sich das Schlussbild. Im kleinen Schwarzen wirft Piper Glückskekse wie Konfetti über den Boden. Hebt mehrere nacheinander auf, öffnet die glitzernde Verpackung und liest die Zukunftsdeutungen. Sichtlich unzufrieden, zertrümmert sie die Kekse in einer Samurai-Pose mit den Händen. Dennoch: Der Dämon scheint besiegt, das Schicksal akzeptiert. Laut knirschend mampft sie die Kekse. Ein Ende von naivem Humor, das dem starken, ernsthaften  Angst-Stück nicht gerecht wird.