Großer Applaus für ein in sich stimmiges, originelles Werk

Marie-Lena Kaiser mit „Ariodante“ in der Reihe „First and Further Steps“ in der Fabrik Heeder

Von Bettina Trouwborst

Georg Friedrich Händels Barockoper „Ariodante“ stand musikalisch Pate bei Marie-Lena Kaisers erstem gleichnamigen Abendfüller. Lebhafte Cembalo-Musik vom Mischpult erfüllt die alte Tapetenfabrik Heeder. Die Zuschauer sitzen im Kreis und formen gewissermaßen eine Manege, denn was folgt, hat durchaus zirzensische  Momente und hohen Unterhaltungswert.

Yin Yun Chen, die wie die anderen drei Tänzer in einer „Ecke“ des Kreises steht, tritt in die Mitte und  streckt ihren Bauch mächtig vor. Sie breitet die Arme weit aus und dehnt sie zurück. Eine vorbildliche Tänzer-Haltung sieht anders aus. Eine Art Handstand mit einem Bein in der Luft, sehr elegant, wird zur Attitüde. Filigran und doch ironisch sind ihre Hand- und Armgesten, mal höfisch-kokett, mal leicht dramatisch. Bald legt Ying Yun Chen sich auf den Boden, den Kopf in der Armbeuge.

Das Stück ist von allem ein bisschen: Tanzpersiflage, ironische Selbstreflexion des choreografierenden Gewerbes und Verwirrspiel mit dem Publikum. Vor allem aber ist dieser Erstling von Marie-Lena Kaiser, trotz kleiner Längen, ein federleichtes Vergnügen – das sich zum Ende hin noch mörderisch entwickeln wird. Mit einer schöneren Empfehlung kann das Nachwuchsformat „First and Further Steps“ kaum schließen.

@Timo-Reinders-ARIODANTE_Marie-Lena-Kaiser.

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„Ariodante“ ist dramaturgisch klug aufgebaut und gibt nach und nach sein Geheimnis preis. Zunächst stehen die Soli des Quartetts, individuell kostümiert in Alltagskleidung mit eigenwilligen Akzenten, im Vordergrund. Kaiser, Absolventin der Folkwang Universität der Künste und Stipendiatin des Fellowships Pina Bausch 2018, findet für jeden ihrer exzellenten Tänzer ein eigenes, immer auch eigenwilliges, Vokabular. Clemence Dieny zeigt zum Andante ausladende Balancen, verspielte Hüpfer und wilde Zuckungen im Kreisrund. Sehr expressiv. Enis Turan verharrt erstmal in einer verzwickten Hock-Pose. Dann wird er zum Irrwisch, immer ausgelassener vollführt er virtuose Sprünge und Drehungen. Mit Jordan Gigout, der mit Turan ein Gespräch offensichtlich über dessen Schrittmaterial anfängt, betritt die Choreografin die nächste Ebene: Das bislang reine Tanzstück, das man als Parodie auf gängige Bewegungsmuster  von der Klassik über den Freien Tanz bis hin zum zeitgenössischen Vokabular lesen könnte, gewinnt eine theatrale Dimension – hier wird ein Stück erarbeitet. Der Franzose würde mit seiner Eigenkomik,  Schlaksigkeit und Präzision einen exzellenten Eulenspiegel abgeben, auch er hüpft und springt, wirft den Kopf hin und her wie ein junges Fohlen. Die musikalische Komposition von Friedemann Brennecke wird derweil immer elektronischer und beschreibt eine Entwicklung von Barockklängen zur Avantgarde.

Das Quartett gerät nunmehr in einen regen Austausch, führt lebhafte  Lagebesprechungen, tanzt in unterschiedlichen Konstellationen, gibt einander Anweisungen. Die (Selbst-)Gespräche und Monologe sind voller Esprit und Witz, führen wie das Bewegungsvokabular Klischees ad absurdum. Sätze wie „atmest du?“ oder „Verbinde die Bewegung  mit deinem Atem. Bleib trotzdem zeitgenössisch!“ sorgen für viel Heiterkeit im Zuschauer-Kreis. Als einer der Tänzer der Asiatin die Anweisung gibt, Kontakt zum Zuschauer aufzunehmen, geht sie auf einen kleinen Jungen zu und reicht ihm die Hand. Irgendwann, als ihr von allen Kollegen gleichzeitig die Imperative um die Ohren fliegen, verweigert sie sich trotzig. Viele kleine Ideen voller Humor lassen das Stück zu einer Tanzkomödie reifen.

Nach dieser Phase tritt der Abend ein wenig auf der Stelle. Doch dann nimmt das Finale nochmal richtig Fahrt auf. Jordan Gigout bricht einen Streit vom Zaun über die Reihenfolge der Choreografie und sieht sich allein gegen die anderen: „I’m the choreografer, I’m Marie-Lena Kaiser“. Beleidigt steigert er sich in seine Empörung, bis ihn eine Tänzerin von hinten anspringt, würgt und zu Boden reißt. Anlass für das Quartett, verschiedene Methoden auszuprobieren, wie man einen Choreografen umbringt – und dabei noch Spaß hat. Eine Mordsidee! Chapeau! Großer Applaus für ein in sich stimmiges, originelles Werk.

@Timo-Reinders-ARIODANTE_Marie-Lena-Kaiser.

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