Das Ballett Dortmund zeigt eine “Alice” im Wunderland zwischen Dorfmusik und Buchlektüren: eine Choreografie von Mauro Bigonzetti – in der Premiere vom 10.Februar 2018 im Opernhaus Dortmund
VORAUSSCHAU AUS DER NACHT:
Das Ballett Dortmund zeigt eine “Alice” im Wunderland zwischen Dorfmusik und Buchlektüren, eine Choreografie von Mauro Bigonzetti, die gleichzeitig die vierte Arbeit des langjährigen künstlerischen Leiters und ersten Choreografen des Aterballetto aus Reggio nell’Emilia für die Dortmunder darstellt.
Mehr als die tänzerischen Leistungen des Ensembles, das kurz vor der Generalprobe eine Verletzung einer Hauptdarstellerin kompensieren musste, beeindruckten die wuchtigen Videoprojektionen des Licht- und Bühnengestalters Carlo Cerri und des OOOPStudio und die grandiose, live dargebotene Musik der drei Sängerinnen von ASSURD mit Enza Pagliara, gemeinsam mit dem Akkordeonvirtuosen Antongiulio Galeandro.
Bigonzetti folgt in der „Traumweltanmutung“ seiner Gestaltung, die er bereits in der Verdoppelung der „Alice“-Figur angelegt hat, beinahe stringent und ohne Brüche der Dualität, ohne sie je mit einer Realität zu kontrastieren. Warum der Besuch des neuen Dortmunder Ballettabends dennoch lohnend ist, erfahren Sie in der Nachtkritik
von Melanie Suchy
Wuchtige Projektionen dominieren den Blick auf die Bühne
Das Stück heißt „Alice“, aber man sieht eigentlich nicht viel von ihr. Immerhin gibt es sie doppelt, das ist der Clou dieser Choreografie von Mauro Bigonzetti. Doch andere Figuren und Bilder drängen sich ständig heran und um die beiden herum, spielen ihnen übel und wohlwollend mit. Ob so oder so, ist auch schwer zu entscheiden: Dieses Einwirken auf das Mädchen, das verdammt ist, sich in eine Frau zu verwandeln, ist ein ständiges Tänzeln auf des Messer Schneide.
Damit überzeugt Bigonzettis Choreografie, die er 2014 für die Company Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart schuf und nun dem Ballett Dortmund als vierte Arbeit übertragen hat. Allerdings zerfällt dieser etwas zu lange Abend, mit einer Pause, sehr in Einzelteile.
Deren lose Zusammenfügung erklärt der Künstler zwar mit der Freiheit, die beiden ebenfalls der Logik widersprechenden Alice-Bücher von Lewis Carroll als Vorlage inspirationsmäßig zu zerrupfen. Doch am Ende fragt man sich, wie viele Enden so ein Stück haben kann, bevor das Unvermeidliche passiert und die Doppelfigur zerfällt, nein: zertrennt wird, und ihre Einheit verliert…
Grandiose Musik verdient die Aufmerksamkeit
Vorher hatten die beiden, die “Kleine” und die “Große Alice”, probeweise Eigenleben, während die andere „Hälfte“ schlief. Also vielleicht im Traum. Doch bietet die Inszenierung gar keinen Kontrast des Realen, weshalb irgendwie alles Phantasie ist.
Manchmal schrecken die Alicen davor zurück oder beäugen es neugierig oder fügen sich freudig oder lustvoll in das Treiben der anderen Figuren mit ein.
Der Anfang ist denn auch etwas zäh, ehe man dieses Prinzip verstanden hat. Zumal auch die wuchtigen Videoprojektionen des OOOPStudio von einer palastartigen Bibliothek, die sich später auf den Kopf stellt und sich in Gewässer spiegelt, sich in buchlose Prachtsäle und in riesenhafte Klöppelspitzen verwandelt, den Blick auf die Bühne dominieren; und auch die grandiose Musik der drei Sängerinnen von ASSURD mit Enza Pagliara sowie Antongiulio Galeandro so viel Aufmerksamkeit verdient. Sie klingt mal wie ein rasches Gehen, wie Uhrenticken, mal wie freche Abzählreime, wie Schlaflieder, Sehnsuchtsmelodie, Tanzmusik, Abschiedsmelancholie. Es sind Kompositionen, die auf traditionellen süditalienischen Liedern und Tänzen basieren und für “Alice” adaptiert wurden. Schade, dass die Texte unverständlich bleiben. Aber wahrscheinlich ist diese Fremdheit, bei aller Eindringlichkeit der wechselnden Stimmungen, gewollt…
Die beiden Alicen, die jeweils das gleiche eher unauffällige, aber mehrmals wechselnde fipselige Kleidchen der Kostümdesignerin Helena de Medeiros tragen, werden verkörpert von Ida Kallanvaara und von Anna Süheyla Harms aus Stuttgart, die spontan für die verletzte Jana Nenadović einzuspringen bereit war. Eine großartige, kraftvolle Tänzerin, die nicht nur ihr kleineres Alter Ego um 500 Watt überstrahlte. Dass beider Timing bei synchronen kleinen Tanzphrasen nicht übereinstimmte, war verzeihlich. Die zwei stehen oft beieinander, verzagt aufs Geschehen blickend; oder eine traut sich vor, streckt sich hinaus mit Augen und Armen, wird von der anderen an der Hand zurückgehalten. Oder auch mal losgelassen. Zwei Seelen wohnen, ach, in der Alicenbrust.
Um ihre Aufmerksamkeit und Nähe werben insbesondere zwei männliche Figuren: Der “Hutmacher”, Michael Samuel Blaško im schwarzen Anzug, der einen großen Zylinder auf dem Kopf und einen weiteren unterm linken Fuß trägt, was ihn steif und zum balancierenden Humpler macht. Legt er die Behinderung ab, wird er zum Schleimer und schlängelt manieriert um Alice herum. Anders das “Kaninchen”, Giacomo Altovino, das sich zuweilen als Dirigent mit Stöckchen geriert und Alice und die “Hofgesellschaft” hopsen, drehen, fallen lässt. Dieses Tier mit aufgebauschten Wuschellocken erinnert an die Pucks der Sommernachtsträume, ein wildes Bürschlein, das den Beschützer der Alicen in der Unterwelt und hinter den Spiegeln gibt, sie aber auch manipuliert. Gegen Ende spendiert Bigonzetti ihm rasante, fast zirzensische Soli mit hochgestrecktem Bein und allerlei losen Verknotungen: die pure Lust am Tanzen-Spinnen. Spätestens hier wird klar, dass diese beiden Figuren wiederum zwei Persönlichkeitsanteile des Autors Carroll darstellen: des Erschaffers der “Alice” und des Nachbarn des Mädchens Alice Liddell. Ein in der viktorianischen Gesellschaft verhafteter, stotternder und schüchterner Gelehrter und Photograph – und ein fabulierender Fantast, präpubertierenden Mädchen verfallen.
Verwünscht und ausgelacht
Hinzu tritt ab und an die “Königin”, Sae Tamura mit Glatzkopf, die ihre Gefährlichkeit durch krallenhaft gespreizte Hände in der Luft und Slow Motion Aktionen ausdrücken soll und manchmal viel zu leise schreit. Zweimal beißt sie einer Alice in den Pferdeschwanz. Vielleicht wäre sie heimlich gern wie das Mädchen? Doch nervt die Figur eher, als dass sie interessant oder dämonisch wirkte. Als “Kater” und “Katze” geben Giuseppe Ragone und Denise Chiarioni in schwarzen Bodys ein dauergeiles Pärchen auf allen Vieren, mit allerlei Verrenkungen und Überspannungen, wobei das Duett nie explizit wird. Mit dem Kater probiert sich auch die Große Alice mal aus. Da sieht man bei Bigonzetti gekonnten Tanz, hier die Arme, dort Beine und Köpfe, herum, hinein, dazwischen, auf und zu; aber er bleibt gefühlskalt. Unter dieser Oberflächlichkeit der Bewegungsideen leidet der ganze Abend.
Mal fingern die Tänzer in der Luft, was wie Nähen aussieht, aber wohl das ewige Teetrinken aus Tässchen bedeuten soll, das Lewis Carroll in seinen Büchern erwähnt. Mal werfen sie beim schwungvollen Tanzen auf bloßen Sohlen die Arme hinter sich, wölben die Oberkörper vor und klappen wieder ein, raus, rein, große Wellen, herausflutschende Arme und kickende Beine. Immer wieder Momente von Spieluhrenfiguren mit halb erhobenen, gerundeten Armen, repetiertem Hinundher. Oder alle sitzen und rucken im uhrenförmigen Kreis, als Musik und Video aufs Vergehen der Zeit anspielen. Dann kontrastiert Bigonzetti verlangsamte und beschleunigte Bewegung. Ein netter Einfall, mehr nicht.
FAZIT
Diese “Alice” des langjährigen Chefs und Hauptchoreographen des Aterballetto in Reggio Emilia, Jahrgang 1960, ist keine künstlerische Großtat, doch wegen der Grundideen und wegen der Musik einen Besuch wert. Die wunderbaren, überhaupt nicht mädchenhaften Sängerinnen, die wie weise Hexen oder Nornen über Schicksale und Akzente entscheiden und herzhaft über ein dickes Buch mit Goldschnitt lachen, wissen womöglich mehr über Alicen als Carroll und Bigonzetti zusammen.