bodytalk und Pumpenhaus veranstalten und

Die Zukunft rückt an

Das Tanzfestival „umPolen“ in Münster zeigt Stücke aus Polen

von Melanie Suchy

Göttin, Prophet, Medium. Etwas von allem und etwas vom Gegenteil ist dieser Tänzer auf den sehr hohen High Heels. Blanke Beine bis hoch zum Schwarzlederkurzslip mit Reißverschluss; der bleibt zu. Die Pobacken sind blank, ebenfalls Bauch und Rücken. Sie reichen nah an das zu beiden Seiten sitzende Publikum heran. Haut und Haare werden sichtbar. Ohne Kosmetik. Schminke färbt nur das Gesicht. Blaugrüne Lippen zum Kurzshirt, dessen Blaugrün an den schillernden Skarabäus erinnert. Ägypten stimmt. Das Buch Thoth, nach dem Piotr Mateusz Wach seine Performance benannt hat, „Book of Thooth“, bezieht sich auf den altägyptischen Gott Thot und ist der Name eines Buchs über ein Kartenwahrsagesystem, ein Tarot, das der illustre Aleister Crowley 1944 publizierte. Das Prophezeien spielt Wach hier nun durch, mit Karten und Freiwilligen aus dem Publikum.

It’s a perfect world

Nach der Einleitung durch den mitzulesenden Song „Darkest hour“ von Sevdaliza mit den Zeilen „I’m the perfect girl. You’re the nightmare, and I’m the dream“, stellt Wach sich und seine Mission mit bedeutungsvollem Hall im Mikroport vor. Einem Rollkoffer entnimmt er seine Hilfsmittel, setzt sich auf einen glamourös geschnörkelten Stuhl, kündigt an, „The Book of Thoth is open“, und klappt die Knie auf. Scheinwerferlicht auf den Schritt, als sei dort l‘origine du monde. Wer eine Frage zu Leben, Liebe, Angst, Tod oder anderen Zukünften hat, knie sich hin und tausche dann mit ihm den Platz des „Masters“. Gesagt, getan. Er legt die Karten aus, wendet eine oder zwei. Manche Bilder ernten spontanes Gelächter oder Seufzen. Wach begibt sich in Denkerpose, dann tanzt er inniglich die Antwort, die er schließlich in polnisch angerautes Englisch übersetzt.

Er balanciert auf einem Bein oder verscheucht einen imaginären Schwarm Wespen oder boxt oder kreiselt mit ausgestrecktem Arm und Finger oder wackelt mit den Hüften. Die Sprüche sind, wie im Tarot üblich, recht aufmunternd, gefolgt von einer Prise Düsterkeit und Warnung. Eine Liebeslektion für je zwei Personen auf ausgelegten Zeitungsblättern mit kommandiertem Augenkontakt gibt Wach auch noch und setzt sich ihr selbst aus. Mit Kuss. Von Mann zu Mann oder Medium zu Begleiter oder Leben zu Leben.

Mit seiner gekonnten Art, burschikos zu wechseln zwischen hochtönendem Esoteriker und ruppigem Moderator, erobert Wach sich die Zuschauerherzen. Insofern geht die Kunst auf: als friedvolles Entertainment und als Aufruf, solch ein „perfect girl“ in seiner Zwischenwelt zu ehren – ohne es zu heilig zu sprechen.  

König-Geist

In „King the spirit“, der einen Uraufführung des Festivals, geht es nicht so humorvoll her. Hier lässt Piotr Mateusz Wach als Solist Marek Szajnar agieren. Der verpackt sich mit lautem Knautschen in Plastik, seine zwei Helfer schließen die durchsichtige Hülle und halten eine Art Staubsauger dran. Es entsteht ein Ball, eine Blase. Der Tänzer drinnen versucht zu gehen, zu hüpfen, voranzukommen. Er müht sich ganz unspektakulär ab an dem Material und dessen Eigendynamik. Purzelt, rollt, schreitet seitlich aus, liegt. Steht, schwankt. Immerzu den Kopf gebeugt. Während er so solitär und angestrengt sein Leben fristet, beschlägt sein Atem die Hülle. Unendlich ist der Sauerstoff nicht, weiß man beim Anschauen. Die Finger hinterlassen krakelige Spuren. Doch an der Rückwand der Bühne entfaltet sich, projiziert, ein wunderbarer Text und eine Welt. „Offen, wild bewachsen mit Kräutern“, „ein unermesslich weites Feld“, Farben, Düfte, Wellen, Unendlichkeit werden benannt, also beschworen: das Gegenteil des eingeschlossenen Menschleins und doch auch identisch mit ihm, zumindest teilweise. Es könnten seine „Fantasien“ sein.

Die Sätze, die nach der romantischen Epoche schmecken, nach 19. Jahrhundert, die auch die Atmosphäre in Paris preisen, dem „Zentrum des Westens“, mit Ankömmlingen, „Künstler, Huren, kleine Höflinge“, stammen von Juliusz Słowacki (1809 bis 1849), einem der – inzwischen – berühmtesten polnischen Schriftsteller, der in Krzemieniec geboren wurde, das heute in der Ukraine liegt.

Beim Zuschauen scheitert man daran, in der Textflut aus „Król-duch“ all die Bilder und ihre Details zu erfassen. Als entziehe sich die Intensität, die Sinnlichkeit. Man fingert an einer Oberfläche. Darüber spannt sich zudem der politische Horizont. Insofern ist der Blasenbewohner, der zum Erschöpften, dann zum Embryo mutiert, nie nur für sich. Als seine Helfer endlich den Verschluss öffnen, sackt die Hülle langsam zusammen. Sie glitzert. Die bis hierher stets mitklingende, schiebende, lärmende, pochende Musik von Piotr Korzeniak schweigt. Die Kugel atmet aus. Sie stirbt.

Doch so theatral traurig beendet Wach  die eindrückliche Performance nicht. Sie geht von vorne los. Fast.

Rundum-Illusionen

Während die zwei Aufführungen die Flachheit der Welt zu Wellen aufschlugen, waren die fünf kurzen filmischen Performances im Keller des Pumpenhauses die dazu passenden Kringel, der 360-Grad-Rundblick, von Bodytalk und ihren Gästen produziert. Mit VR-Brille und Kopfhörern maskiert, findet sich die Zuschauerin zwischen die Nasenspitze eines Mannes und eine Gummimembran gequetscht, an die sich menschliche Hände drücken. Dann zerfliegt der Mann, vom Glitch gepackt; ein eingeblendeter Text kündet von einem altgriechischen König und Halbgott („Ship of Theseus“, Nieves de la Fuente Gutiérrez). Oder man fühlt sich am Boden eines winzigen Badezimmers abgelegt und vergessen, danach in einer Ecke auf der Wanne mit Blick auf Schimmelflecken und eine riesenhafte Tänzerin, die sich in Nischen quetscht (“The things in my room”, Myrto Vratsanou). Man schwebt zwischen Leinwänden („Vier Alleinwände“, Momoko Baumgart) über einem Boden, der viel zu weit unten ist, und aus Rissen in den Wänden drücken sich Arme und Beine, mit Farbe beschmiert.

Quetsch

Jetzt will die Kunst ran, will dem Publikum ganz nahe kommen. Will packen, will sich anpacken lassen. Wahrscheinlich will sie geliebt und für wahnsinnig notwendig erachtet werden nach den mehr als zwei Jahren Pandemiepein. Solche Gedanken weckte dieser dritte Abend des Festivals. Es ist nur eine Vermutung. Die Pein, in Polen zeitgenössische Tanzkunst zu machen, ist schließlich kaum vergleichbar mit den Schwierigkeiten hierzulande, die von so vielen Möglichkeiten abgemildert werden.

Das eingespielte Team um Yoshiko Waki und Rolf Baumgart alias Bodytalk ist seit 2016 am Pumpenhaus in Münster Tanztheater „in residence“. Es hat nach „Israel is real“ 2021 nun zum zweiten Mal ein Festival aufgelegt und dafür die in vielen Jahren des Tourens und Kooperierens aufgebauten Verbindungen spielen lassen. Piotr Mateusz Wach, der von 2015 bis 2017 als Tänzer beim Teatr Rozbark in Bytom engagiert war, tanzte dort nochmal als Gast, als Bodytalk 2020 dort „Bilderzerstörer“ schufen, ein Stück gegen die Wattigkeit von Kunst. Wach trug damals den Blumenstrauß im nackten Hintern. Teatr Rozbark beschließt am 3. Dezember mit der deutschen Erstaufführung seines „Policzalni“ das Festival.