Essen, PACT Zollverein, Ruhrtriennale 2022

Die Fülle

„Encantado“ der Companhia de Danças Lia Rodrigues behext, verführt und verflucht

Kurzbesprechung von Melanie Suchy

Weiche! Alles ist Übergang, ein Über-Gehen, Hinübergehen. Je länger „Encantado“ sich auf der Bühne von PACT Zollverein, im Rahmen des Gastspiels bei der Ruhrtriennale, zu Füßen des Publikums entfaltet, desto fraglicher wird, wie es je enden würde. Und doch ist das Ende dann ganz logisch. Die elf Tänzerinnen und Tänzer der Choreografin Lia Rodrigues lassen fallen, was sie getragen haben, was sie gezwirbelt, geknotet, getauscht, gebauscht, gebündelt, gerafft, gestrafft und flattern gelassen haben. Sie treten nacheinander ganz hinten von der schwarz ummantelten Bühne ab, so wie sie gekommen sind. Nackt. Was jetzt da liegt, sind die Stoffe, dutzende Tücher in allen Farben und vielen Mustern. Sie füllen die Bühne und wirken nicht wie liegengelassener Abfall oder Reste, Spuren einzelner Leute. Sondern auf seltsame Weise steckt Leben in ihren sanften Falten, Wellen.

Die erfahrene Choreografin Lia Rodrigues hat das Wunder vollbracht, mit ihrer Companhia de Danças aus Rio de Janeiro ein Stück zu erschaffen mit lauter Stoffen – und es dennoch nicht aussehen zu lassen wie hunderte andere Stücke, die auch schon mit Tüchern oder vielen Klamotten hantiert haben. Hut ab! Das liegt wohl an dem Anfang, an der Weise, wie die menschlichen Körper mit dem Material der Hüllen in Verbindung treten: im Kriechen und ganz langsamen Befüllen. Und das auch erst, nachdem sie den blanken schwarzen Boden allmählich bedeckt haben. Eingekleidet. 

Vorübergehend….

ENCANTADO_Lia-Rodrigues_©Sammi-Landweer

ENCANTADO_Lia-Rodrigues_©Sammi-Landweer

Es ist eine Farbenfreude im Licht, das aufgeht. Viel Rot. Aber keine geraden Linien in den Mustern. Raubtierflecken sind zu sehen und Blumen. Wenn nun einzelne Tänzerinnen und Tänzer in diesen Garten gehen, langsam, ordnen sie sich im buchstäblichen Sinne unter, schlüpfen unter die Decken und Tücher. Eine zieht ein weißes über sich, als begrabe sie sich selber. Jemand zwirbelt den Kopf, bis ein Kloß Tuch ihn verdeckt. Die Menschen verbergen sich oder zumindest ihre Gesichter, während sie andererseits auffällige Beulen und Spitzen in der Landschaft wachsen lassen, mit der sie eins werden, aber nur fast. Verschwinden und Entstehen ist ein Wechselspiel, das als Grundthema Veränderung das wunderbare „Encantado“ trägt.

Der Titel bedeutet denn auch: „verzaubert“, wie im Englischen „enchanted“. Während wie aus weiter Ferne eine Rassel, „tatí, tatí“, einen Rhythmus ins Gehör flüstert, werden die Gebilde der Tänzer und Tücher größer. Sie zaubern – also knüllen, knoten, winden, schlingen, stopfen, ziehen – mit den Stoffen Zöpfe, Mützen, Turbane, Röcke, Hemden, Riesenhintern, Halskrausen, Hundeleinen, Schwänze, Armgirlanden. Wobei sie das Herstellen selber hinter ihren Rücken oder gehaltenen Vorhängen verstecken wie Zauberer. Sie verwandeln ihr Aussehen, nein: sich. Mal im Stehen, mal auf Vieren. Katzen, Pilze, Menschen. Es sind Masken und Kostüme, die geschaffen werden und vergehen. Auch die Gesichter und Körper spielen Maske: Nach einer Weile, als auch die Musik auffälliger wird mit Stimmen im geschlagenen Tanztakt, wenden sich die Tanzenden dem Publikum zu. Sie zeigen, sie präsentieren. Sie schauen uns an.

Sie reißen die Augen auf, lächeln groß, drohen mit Blicken, ziehen ängstliche Schnuten, strecken Zungen heraus. All das erscheint und verschwindet, ist nicht festzuhalten. Mit den Turbanen und mancher lasziver Pose fliegen Erinnerungen an Orientalismus-Gemälde herbei, Exotismus. Sardanapal. Ja, zehn der Tänzerinnen und Tänzer sind nicht weiß. Vielleicht verwandeln sie ihre Wut in Verführung und Verwirrung. Seht, ein hübsches Bild und Lächeln, das wollt ihr so? Dann entfleucht, verfließt es einfach. War nur gespielt.

ENCANTADO_Lia-Rodrigues_©Sammi-Landweer

ENCANTADO_Lia-Rodrigues_©Sammi-Landweer

Spiegel im Fieber

Manche kecke Figurenschau hat einen Pina-Bausch-Hauch, auch das Fächeln mit den Händen. Eignen sich die Brasilianer die verchoreografierten Brasilieneindrücke der Wuppertalerin an als eine Art Rückverwandlung? Tolle Idee.

Sogar ihr „Sacre“ taucht kurz auf. Als die Tänzerschar sich einmal wieder klumpt, diesmal nicht in Reihe oder als Inselhaufen, sondern im Kreis, und eine Tänzerin in ihrer Mitte auf- und abspringt. Ein Tuch in der Hand. Kurz nur, aber es langt für die Verbindung in Vergangenheiten. Das rote Kleidchen damals, ein Stück Stoff, das ein riesig aufgeladenes Symbol darstellte. Opfer, Sterben, damit andere leben …

Gespenster

Laut Programminformation bezieht sich Lia Rodrigues mit „Encantado“ auf solcherart bezeichnete Wesen „zwischen der Welt der Lebenden und der Toten“ im Glauben der afroindigenen Kultur Brasiliens. Sie kommen hier als breitbeinig oder auf einem Bein tanzende, üppig behängte Spaßmacher zum Vorschein und als bedrohliche, sich doppelstöckig aufbauende gesichtslose Dämonen. Aber eben auch, ohne dass sie es so erklärt, als Chimären kolonialistischen Erbes.

Die Musik wurde bei den indigenen Guaraní Mbya aufgenommen. Sie wird immer lauter, der Beat heftiger, so dass der Boden unter den Zuschauerfüßen vibriert, die rufenden, singenden Stimmen hörbarer, die Tänzer gehen immer mehr mit, die Schritte, rechts, links, der Rhythmus bleibt, aber verändert sich im Klang, er treibt und trägt und läuft auf kein Schlussakkordende hin. Tatsächlich hält die Spannung der Choreografie mit ihren immer neuen Wunderlichkeiten und der auflebenden Tanzlust fünfzig Minuten. Die letzten zehn lassen allmählich los, die Tänzer kreiseln schließlich alleine um sich selbst mit fliegenden Tüchern.

Wie auch frühere Werke der Choreografin, die mit Geduld, Kraft, geschicktem Materialeinsatz und mit merklicher Beteiligung der Tänzerinnen und Tänzer überzeugten, hebt „Encantado“ keinen Zeigefinger oder stößt gegen den Kopf. Es ist cleverer: Es mischt den Kopf auf, es setzt aufs Behexen. Dabei lässt es die Kunst frei. Ob man eine bunte, ziemlich muntere Show der Metamorphosen sieht oder gedanklich versucht ihre Schichten aufzudecken: Sie pflanzt sich in die Erinnerung. Und weiß etwas über die Zukunft.

ENCANTADO_Lia-Rodrigues_©Sammi-Landweer

ENCANTADO_Lia-Rodrigues_©Sammi-Landweer

getanzt von: Leonardo Nunes, Carolina Repetto, Valentina Fittipaldi, Andrey Da Silva, Larissa Lima, Ricardo Xavier, Joana Lima, David Abreu, Matheus Macena, Tiago Oliveira, Raquel Alexandre