Ruhrtriennale 2022

People have the Power

Wen Hui als chinesische Patti Smith auf PACT Zollverein

letzte Aufführung am 4.September um 18 Uhr PACT Zollverein Essen

von Arnd Wesemann

Corona machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Monatelang pendelte sie durch Deutschland zwischen Frankfurt und Essen, nach Weimar, München und Berlin. Mit dem Pass einer Geflüchteten ist sie wie gefangen. Zurück nach Hause kann sie nicht. Chinas Türen sind noch immer zu. Die erste „freie Choreografin“ der Volksrepublik China, die im Westen Anerkennung fand, ist mit ihrem Solo „I Am 60“ der Zeit hinterher.

Denn am 25. Mai wurde sie inzwischen 62 Jahre alt. Auf der Bühne spaziert sie durch ihre Geburtsstadt Kunming. Fasziniert beobachtet sie mit einer kleinen Kamera die schnellen, sportlichen Laufübungen einer deutlich älteren Dame, die eins der auf vielen öffentlichen Plätzen aufgestellten Turngeräte in Beschlag genommen hat und – knieschonend – ihren täglichen Parcours auf der Stelle „läuft“. Im Sprint. Wen Hui stellt ihre Kamera auf eine Mauer, tritt selbst ins Bild und läuft der Agilität der Älteren tapfer entschlossen hinterher. Das geschieht nach einer Stunde voll trauriger Geschichten aus China. Endlich wird sie auf der Bühne aktiv, versprüht Energie, will sich nicht länger unterkriegen lassen. Lippensynchron schmettert sie „People have the power“ von Patti Smith.

Sie schmettert die sozialistische Losung schlechthin; selbst in China wäre es unmöglich, sie zu zensieren. Für Ältere ist das Lied rebellisch genug, aber dieser Abend – 2021 in Weimar uraufgeführt und nun bei der Ruhrtriennale am PACT Zollverein in Essen zu sehen – erwacht erst hier aus einer seltsam melancholischen, autobiografischen Eitelkeit. Das war so nicht geplant.

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Verleihung der Goethe-Medaillen / Rahmenprogramm. Performance mit der chinesischen Preisträgerin Wen Hui im E-Werk – Uraufführung – Aufnahme : Maik Schuck

Wen Hui wollte mit vier Tänzerinnen eine Skizze des in China kaum vorhandenen Feminismus entwerfen. People are equal – auf dieser Basis fußt zwar der Sozialismus. Dessen Mythos behauptet sogar die Gleichstellung der Frau. Aber nicht in China. Frauen arbeiten hier länger als Männer, erhalten deutlich weniger Lohn und nur zwei Prozent schaffen es überhaupt in eine leitende Funktion. Es gibt keine Gleichberechtigung in China. Es gibt erste Ansätze dazu, bei den jetzt 30-Jährigen. Es gibt Verhaftungen, weil Frauen mit entblößtem Oberkörper protestieren. Anfang Februar 2022 gingen grausame Fotos und Videosequenzen von einer angeketteten Frau um die Welt, die in einem Dorf in der Jiangsu-Provinz acht Kinder zur Welt gebracht hatte und immer wieder vergewaltigt worden war von den Männern des Dorfs. Es gibt Verhaftungen, weil Frauen aus Sicht des Staates eine Schlüsselrolle in der chinesischen #MeToo-Bewegung spielen, wenn sie sich vor einem Gerichtsgebäude versammeln, sobald dort die Klage einer Frau wegen sexueller Belästigung verhandelt wird.

©nora_houguenad

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Diese Aktivistinnen wollte Wen Hui mit auf die Bühne holen. Doch die Pandemie hat in China stärker als anderswo die Welt in Stücke geschlagen. Niemand redet offen auf digitalen Plattformen. Jedes geäußerte Wort wird durch Chinas Künstliche Intelligenz gespült, auf der Suche nach Abweichung.

„I am 60“ ist nicht nur dem Titel nach eine Autobiografie. Sie ist auch Selbstschutz. Es ist ihre Geschichte. Wen Hui gründete Mitte der 1990er Jahre mit ihrem damaligen Mann, dem Dokumentarfilmer Wu Wenguang, das Living Dance Studio. Nur wenige Kilometer vom damaligen Flughafen von Beijing entfernt, entstand in diesem Studio ein einzigartiger Mix aus Dokumentarfilmen und Tanz – ein Übereinander-Blenden von Tanz als einer Form körperlicher Rebellion vor dem kühlen Blick der Kamera auf die Wirklichkeit. Kunst wollten beide in Kontakt mit der Gesellschaft bringen – nach Aufenthalten in New York und bei Pina Bausch schwoll der Wille an, gesellschaftliche Missstände und Tanz aufeinander zu beziehen. Um Tanz nicht länger als Weltflucht vor dringlichen Problemen zu betrachten. Bis 2014, der Trennung von ihrem Mann, aber auch dank Bodenpreisen, die die Kompanie zwangen, ihr Studio zu verlassen. Man sieht Wen Hui in einer Aufnahme aus dieser Zeit. Inmitten der Umzugskisten tanzt sie die Trauer um ihre Verluste.

Auf der Bühne von „I am 60“ gibt es drei Leinwände, ganz hinten eine, davor eine nur brusthoch gezogene Bande, wie im Fußballstadion, sowie ein Segel, das gehisst und händisch bewegt wird, um im Lichtdesign von Romain de Lagarde immer wieder zu wirken, als würden die in Schwarz-weiß projizierten Bilder vom Feuer erfasst verbrennen.

©nora_houguenad

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In diesem Setting bewegt sich Wen Hui wie eine Marionettenspielerin, die winzig, mit erhobenen Händen, zwischen ihrer Großtante und dessen Sohn in dem Bergdorf Da He Bian in Yunnan im Gras zu tanzen scheint. Übergroß unterhalten sich die beiden über die damals noch kleine Wen Hui und ihre Essgewohnheiten. Vier mal war Wen Hui bei ihrer „Dritten Großmutter“, immer wieder geht es um drohendes Unheil, als traue Wen Hui ihrer Geschichte nicht, als müsse sie Cliff-Hanger einbauen. Sie zeigt dann historische Fotos und die vermeintlich heile Welt der chinesischen Filmkunst aus den 1930er- und 1940er Jahren – Geisterfilme, die sich vor ein drohendes Unheil schieben. Vermutlich gemeint ist Mao und seine Landreform, die Millionen städtische Kinder zu Landarbeitenden zwangsverpflichtete. Wen Hui entkam dem Arbeitskommando, weil der Vater sie 1973 zum Tanzstudium an das Konservatorium von Yunnan einschrieb. Denn Künstler:innen und Sportler:innen waren vom Landwirtschaftsdienst ausgenommen.

Sie studierte die revolutionäre Propagandaoper, klassisches Ballett und traditionellen Tanz. Die Kinder tanzten mit der Mao-Bibel in der Hand, um gute Noten zu bekommen. Tanz war eine Form von Militärdienst. „Unsere Körper gehörten damals nicht uns, sondern dem Staat“, erzählt Wen Hui, die ins Ausland ging, sich emanzipierte, aber nun nicht den Eindruck erweckt, die Emanzipation sei ihr geglückt. Im Gegenteil. Immer wieder sind Filmsequenzen zu sehen, die Wen Hui an einer Straße stehend zeigen, die sie nicht queren kann. Kein Auto hält an, um ihr zu erlauben, das rettende Ufer der anderen Seite zu erreichen. Es ist zugleich ihr Schlussbild. Zwischen zwei Leinwänden vorne und hinten steht sie mitten auf der Straße – und kein Weg nirgends, der in die Freiheit führt.

I am 60©__li_yinjun-de-fu-ben

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