Der Blick über die Grenze: Kurze Nachtbesprechung der Wittener Uraufführung von „der neue“

Plötzlich kommt „der*neue“ – und verändert alles

Der neue Gastschüler Beppo ist gerade erst fünf Minuten da, schon dribbelt er sich mit seinem Basketball quer durch die Aula und mischt ungefragt fremde Sounds in die teure Musikanlage. Außerdem, wahrscheinlich am entscheidendsten, sieht er obendrein noch ganz anders aus als die anderen Schüler. „Merkst du nicht, dass du störst?“ ätzt Musterschüler Leon (Kevin Herbertz) ihn sichtlich genervt an.

Aber der Neue bleibt. Das gleichnamige Theaterstück, das am Freitagabend in Witten seine Uraufführung feierte, bereitet für Schüler ab 11 Jahren die Themen Mobbing und Ausgrenzung auf. Bemerkenswert: Die Inszenierung setzt nicht auf die Darstellung von simplem Hin-und-Her-Geschubse, sondern zeigt spannend auf, dass es sich bei Mobbing viel mehr um ein systemisches Problem handelt.

Damit das gelingt, wählt Autorin Beate Albrecht einen besonderen Kniff: Nicht Täter und Opfer stehen in ihrer vielschichtigen Analyse im Fokus, nein, diejenigen, die dazwischen stehen, die mitlaufen und damit die Aufrechterhaltung des Systems erst ermöglichen, genießen ihr volles Interesse. Und so dient auch der Neue hier nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, als schlichtes Mobbingopfer. Stattdessen taucht er einfach auf – und stellt allein dadurch die bisher geltende Ordnung in der Schulclique auf den Kopf. Szene für Szene legt das Stück frei, was in der Clique passiert ist, bevor der Neue kam. Die Schüler – und ebenso die überarbeitete Klassenlehrerin Ina (Beate Albrecht) –  sind durch die neue Gruppendynamik jetzt plötzlich gezwungen, ihre Rollen zu konfrontieren. Anrührend ist dabei vor Allem die Wandlung von Susan Lachermunds Crissy von der aggressiv-angstbesetzten Verteidigerin der Cliquenhierarchie zur sich selbst in Frage stellenden Mitfühlenden.

Als genial erweist sich die Besetzung des Neuen selbst: Omar Guadarramas bewegungsgetriebene Spielweise verschafft der Figur von Anfang an eine ansteckende Dynamik. Guadarrama, der selbst erst seit zehn Monaten in Deutschland lebt, bringt als Performer sichtbar frischen Wind ins starke theaterspiel-Ensemble, ebenso wie seine Rolle diesen in die Clique bringt. Regisseur Achim Conrad schafft eine Inszenierung, die viel mehr zulässt, als die schlichte Erzählung einer Geschichte. Immer wieder suchen die Performer auch den direkten Kontakt zum Publikum. „Welche Erfahrungen habt ihr mit Mobbing an eurer Schule?“, fragt die Lehrerin – und die Zuschauer dürfen tatsächlich antworten.

Dass „der*neue“ eine Menge Spaß macht, dafür sorgt auch die Musik von Florian Walter. Kaum ist der Neue da, bricht er mit dem in der Clique etablierten Pop-Freundschaftskitsch. Er bringt neue Beats ein, mischt sie live zusammen und sorgt so auch auf den Ohren für Unruhe. Katja Struck (Ausstattung) hingegen macht das innere Ringen der Schüler äußerlich sichtbar. Zum Finale holen diese die Monster aus sich selbst hervor – und finden einen Weg, mit ihnen umzugehen.

Musik, Kostüme, eine mutige, raffinierte Dramaturgie und vor allem die geballte Energie des Ensembles verschaffen dem jugendlichen Publikum einen frischen Blick auf die unterliegenden Dynamiken ihres Alltags. Dabei zeigt „der*neue“ nicht nur auf, wie Ausgrenzungsmechanismen in Gruppen entstehen, sondern wie uns das Neue kontinuierlich verändert – und die Chance eröffnet, uns selbst zu hinterfragen.

©Simon Jost_der neue

©Simon Jost_der neue