Im Gespräch mit HARTMANNMUELLER

Das schräge Performance-Duo HARTMANNMUELLER bereichert seit zehn Jahren die Tanzszene in NRW. Da ist es ein schöner Zufall, dass es jetzt, von 2021-2023, erstmals die Spitzenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen erhält – verdient. Poppiges Illusionstheater, Horrortrip, Lasershow, aber auch Seelentanz prägen ihr autonomes Universum. HARTMANNMUELLER können Leichtigkeit und Harmonie ebenso wie Bedrohung und Gewalt. Bei dem Festival tanz nrw 21 vom 28. April bis 9. Mai sind gleich zwei Produktionen zu erleben: „Die ultimativ positive, performativ installative, relativ alternative Schöpfung“ und „praktisch galaktisch“, ein Tanz/Performancefilm für Menschen ab 6, von Mueller.

Das Interview führte Bettina Trouwborst – Titelbild: DieSchöpfung2019©Ursula_Kaufmann

Daniel Ernesto Mueller, wie ist der Ernesto in Ihren Namen geraten? Gibt es spanische oder südamerikanische Wurzeln?

Mueller: Ja! Das ist eine tolle Geschichte. Meine Mutter ist Mexikanerin, mein Vater Deutscher. Ich bin ein echtes Kind der Globalisierung. Allerdings mit hohen sprachlichen Barrieren. Soll ich erzählen?

Ja, bitte!

Mueller: Mein Vater hatte einen Freund, der mit einer Mexikanerin zusammen war. Auf einem Foto sah er damals neben der Frau seines Freundes eine andere Frau und sagte ihm, dass er diese Frau einmal heiraten werde – so zum Spaß. Etwas später, 1976, sind er und sein Freund nach Mexiko geflogen. Auf einer Party erkannte mein Vater die Frau auf dem Foto wieder – und die beiden haben sich geküsst. Ein Jahr lang haben sie sich Briefe geschrieben. Wobei ein Brief von Mexiko nach Deutschland damals etwa einen Monat brauchte. Als meine Mutter dann während einer Europareise meinen Vater besuchte, haben die beiden sich verlobt und noch im gleichen Monat geheiratet.

Das ist wirklich eine schöne Geschichte. Gehen wir weiter. Bis zu Ihrem 26. Lebensjahr hatten Sie beruflich Anderes im Visier als die Bühne – Sie wollten Grundschullehrer werden. Erst nach dem Lehramtsstudium in Frankfurt am Main besuchten Sie die Folkwang Hochschule. Wie kam es zu diesem Richtungswechsel?

Mueller: Zunächst einmal habe ich von meinem Elternhaus her keinerlei Bildungskapital mitbekommen. Die Familie meines Vaters war in der dritten Generation Schlosser. Er selbst hat nach einer kaufmännischen Ausbildung in einer Bank gearbeitet. Meine Mutter stammt aus einer Gerberfamilie. Ich war der Erste, der in unserer Familie Abitur gemacht hat – allerdings habe ich alle Schulformen durchlebt. Erst die Hauptschule, weil es hieß, dann geht es schneller und du kannst danach eine Lehre machen. Aber ich hab mich da überhaupt nicht wohl gefühlt und war auch ein sehr schlechter Schüler. Also bin ich in Eigeninitiative zur Realschule gewechselt und habe dort meinen Abschluss gemacht. Als ich danach noch Abitur machen wollte, wurde das Zuhause nicht verstanden. Aber ich wollte unbedingt Lehrer werden. Erst während des Studiums – Mathe, Sport und Deutsch auf Lehramt – habe ich mit 23 Jahren das Tanzen entdeckt. Innerhalb des Sportstudiums gab es eine Professorin, die mein Talent erkannt und gefördert hat und mir Workshops, beispielsweise in Kontaktimprovisation, empfahl. Es waren zwei Freundinnen, die mich unwissentlich an der Folkwang Hochschule angemeldet haben. Als die Einladung zum Vortanzen eintraf, war ich ziemlich überrascht … Aber ich kam immer eine Runde weiter und wurde letztlich genommen. Bei der Aufnahmeprüfung an der Folkwang habe ich tatsächlich mit 25 Jahren mein erstes Plié gemacht.

Aber Sie waren doch noch gar nicht fertig mit dem Lehramtsstudium …

Mueller: Die damaligen Professoren haben mir erlaubt, erst noch mein Staatsexamen abzulegen und ein Jahr später anzufangen. Das habe ich dann auch gemacht.

Leben Sie jetzt den spielerischen Gestaltungstrieb des Grundschullehrers – natürlich künstlerisch erhöht – auf der Bühne aus? Ich denke da an Luftballons als Mickey-Mouse-Ohren oder den König mit Papp-Krone und dem Müllsack als Schleppe.

Mueller: Die Szene, auf die Sie anspielen, hat eher damit zu tun, dass Ben Riepe und ich 2016 ein Pflegekind, einen damals zweijährigen Jungen, aufgenommen haben. Ich war zu Hause plötzlich mit der Elternrolle und der Lebensrealität dieses kleinen Menschen konfrontiert. Zusätzlich waren wir als Familie nach außen politisch sichtbar. Eine Regenbogenfamilie mitten in Düsseldorf. Diese ganz neue Situation habe ich damals mit in die Proben genommen.

Simon Hartmann, Ihr Weg zur Bühne war der direkte. Vor der gemeinsamen Ausbildung in Essen absolvierten Sie in London die Desmond Jones School of Mime & Physical Theatre. Lernten Sie dort die extremen künstlerischen Mittel von HARTMANNMUELLER – wie Grimassieren in Zeitlupe oder die Suggestion eines dramatischen Settings, aus dem buchstäblich ein Luftballon aufsteigt?

Hartmann: Ja, auf jeden Fall. Die Pantomime habe ich aber schon in der Waldorfschule kennengelernt. In der Abschlussklasse wählt jeder ein Thema und stellt es am Ende des Schuljahres in einer großen Präsentation vor. Dafür habe ich die klassische Form der Pantomime gelernt nach Marcel Marceau und Étienne Decroux. Deshalb hat mich mein Pantomime-Lehrer damals in Pforzheim an die Desmond Jones School of Mime & Physical Theatre in London empfohlen. London war wie ein Wegweiser hin zu meiner künstlerischen Laufbahn. Das breite Angebot habe ich zu schätzen gelernt. Ich bin dort zum ersten Mal in Kontakt mit Tanz und Performance gekommen. Das Körperliche, Bewegung zu formen, zu kreieren, zu manipulieren und die Energie, die dabei entsteht, – das alles hat mich extrem fasziniert. Da wurde mir klar, da will ich hin, auf die Bühne, als Tänzer!

Ich würde schon sagen, dass ein Großteil unserer künstlerischen Mittel in London angelegt wurde. Dort habe ich auch im tänzerischen Bereich die Grundlagen erlernt für das Studium an der Folkwang Hochschule und für unsere spätere Arbeit.

HARTMANNMUELLER01©DennisYenmez

HARTMANNMUELLER©DennisYenmez

Wer von Ihnen beiden ist der Risikofreudigere?

Hartmann: Ich glaube, das ist der Ernesto!

Mueller (lacht): Ja, ich glaube auch. Erst einmal etwas Grundlegendes: Als wir damals HARTMANNMUELLER gegründet haben, nahmen wir uns vor, alle Ideen und Materialien erst einmal zu bearbeiten – nichts sollte verworfen oder im Vorfeld beurteilt werden. Und ich denke, ich bringe da manchmal Materialien ein, die von außen extrem wirken können. Beispielsweise habe ich in Düsseldorf eine Ausbildung zum Sterbebegleiter gemacht. Die Thematik des Todes hat sich dann so in unsere Arbeit eingeschlichen, dass sie uns bis heute beschäftigt. Und ich bin einfach ein extremer Typ (lacht wieder). Ich fühle gerne stark, ich rieche gerne stark, ich höre gerne stark. Ich kann mich in einer Thematik unheimlich ausbreiten – und Simon ist dann sofort dabei und webt sich mit seinen Themen und seinen Qualitäten ein.

Heißt das, dass alle Szenen gemeinsam entwickelt werden?

Mueller: Sie entwickeln sich anfangs nebeneinander. Unsere Arbeitsweise sieht so aus, dass sich erst mal jeder für sich mit einem bestimmten Material beschäftigt. Im Probenprozess stellen wir unsere Ideen gegenüber. Aus diesem Fundus heraus arbeiten wir dann miteinander. Und dann auch mit unserem Team, denn wir holen uns ja auch immer noch Leute dazu, die mit uns denken und uns inspirieren.

Hartmann: Vom Charakter her bin ich jemand, der erst einmal gerne beobachtet, wenn Daniel seine verrückten Ideen mitbringt. Daniel kann auch sehr gut beobachten. Und so verfolgen wir ganz genau gegenseitig unsere Recherchen. Dann tauschen wir uns aus, es befruchtet sich und wir machen uns gemeinsam auf den Weg.

Die präzise Kunst von HARTMANNMUELLER ist immer eine Gratwanderung – auf vielen Ebenen. Sie reizen lustvoll Grenzen aus bis zum Anschlag, akustisch beispielsweise, wenn Simon in „it is what it is“ eine Orgie der Aggression feiert und Metallgegenstände auf den Boden knallen lässt. Ich gestehe, ich bin bei der Premiere im Tanzhaus NRW rausgegangen für einen Moment. Oder physisch, wenn Daniel sich in „My saturday …“ in Latex-Tapes einwickelt bis fast die Luft wegbleibt. Wirkt das Stilmittel der Übertreibung erst, wenn es weh tut?

Mueller: Nein. Bei der Premiere war es tatsächlich so, dass die Mikrofone viel zu laut eingestellt waren. Das war ein Versehen. Und das Einwickeln mit dem Tape sah viel schlimmer aus, als es war. Ich persönlich finde es gut, wenn der Zuschauer einen körperlichen Zustand mitempfindet. So ein bisschen an die Grenzen gehen – das reizt uns.

Auch (Selbst-) Ironie ist ein Markenzeichen. Das beginnt schon beim  Stücktitel. Bei dieser Gelegenheit: Was soll der Titel „My saturday went pretty well until I realized it was monday“ bedeuten?

In dieser Arbeit geht es um Nachhaltigkeit, übermäßigen Verbrauch von Ressourcen. Auch um Elternschaft, um den jungen Hamlet und darum, was wir auf dieser Welt hinterlassen. Das Zitat will sagen, dass, bevor man einen Gedanken überhaupt formuliert, eine Situation erkannt hat, es in vielen Fällen schon zu spät ist.

Aber schade, dass man als Publikum diesen Hintergrund ja nicht unbedingt versteht …

Mueller: Das ist auch nicht so wichtig. Wir arbeiten daran, dem Publikum Freiräume zu schaffen. Denn das, was wir beide manchmal denken, ist so klein im Vergleich zu der Gedankenwelt, aus der wir das Publikum abholen können. Wir treiben ein bisschen Unfug und beobachten dann, wohin es driftet.

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TANZWEB-HARTMANNMÜLLER-DU-BIST-NICHT-ALLEIN 2016

Welche Funktion weisen Sie dem Publikum zu? Denn typisch sind ja auch diese filmisch-zerdehnten Szenen, wenn Akteure und Zuschauer gleichermaßen innehalten und einen intensiven Bewusstseinsmoment erleben. Der schmierige Entertainer beispielsweise, der plötzlich in den Saal schaut und grimassiert …

Mueller: Wir denken bei jedem Stück die Perspektive des Publikums mit. Das beeinflusst den Probenprozess sehr stark. Uns ist immer bewusst, in welche Welt wir einladen und was wir dem Publikum am Anfang präsentieren. Beispielsweise arbeiten wir mit Gerüchen – einmal war es Himbeerduft, der eine Szene untermalte. Ein anderes Mal haben wir zu Beginn einer Performance Gletschereis-Bonbons verteilt. Dann konnten die Leute zusehen, wie große Eisblöcke, die von der Decke hingen, schmolzen. Wir suchen immer nach einem Weg, das Publikum in unserer Welt zu ziehen, auf allen Ebenen, mit allen Sinnen.

Hartmann: Wir brechen diese „vierte Wand“ ja sehr oft auf, um eine Beziehung zum Zuschauer herzustellen. Für uns ist es enorm bereichernd, wenn wir das Publikum auf eine Reise mitnehmen. Aus dem Saal kommt sehr viel an Stimmung bei uns Performern an. Das Publikum ist wie ein eigenständiges Wesen. Für unsere Arbeit ist das sehr wichtig und es gibt uns ein ganz anderes Gefühl, als wenn man nur in seiner Bühnen-Blase bliebe.

Sie haben beide lange im Ensemble von Ben J. Riepe. Ästhetisch ist die Schnittmenge mit seiner Arbeit geringer, als man vermuten würde. War es am Anfang schwierig, sich diesem Einfluss zu entziehen?

Hartmann: Für uns eigentlich weniger. Wir hatten uns ja schon vor Ben an der Folkwang Hochschule kennengelernt und dort diesen HARTMANNMUELLER in unseren Köpfen etabliert und entwickelt. Aber für die Außenwelt war es  schwierig, das auseinander zu halten. Klar, es war schon ein starker Einfluss, denn ich habe zehn Jahre im Ensemble von Ben Riepe getanzt. Trotzdem haben wir immer unsere eigene Handschrift, unsere eigene Sprache entwickelt.

Warum tanzen Sie nicht mehr bei Ben Riepe?

Hartmann: HARTMANNMUELLER nimmt extrem viel Zeit in Anspruch und auch ich habe Familie. Darauf konzentriere ich mich jetzt.

Mueller: Bei mir ist es ähnlich. Ich habe zwölf Jahre mit Ben gearbeitet. Irgendwann ließ sich nicht mehr alles unter einen Hut bringen. Es hat mich schon Mut gekostet, meinen eigenen Weg zu gehen. Denn es ist etwas ganz anderes, ob man ein Performer ist, sich auf der Bühne entfalten kann und alles um einen herum geregelt wird, als wenn man künstlerisch verantwortlich ist. Als HARTMANNMUELLER beschäftigen wir uns etwa zu 70 Prozent mit Organisation, beispielsweise Fördermittel beantragen und Konzepte schreiben. Nur die restlichen 30 Prozent der Zeit arbeiten wir künstlerisch. Zudem haben wir in den letzten Jahren mit mehr als 30 Menschen zusammengearbeitet. Das erfordert viel Kommunikation und Zeit. Wie Simon sagt, für die Außenwelt, vor allem für die Förderer, war es schwieriger. Wir mussten uns vorstellen und erklären, dass wir nun unser eigenes Ding machen. Denn es hieß, wir würden ja schon als Tänzer von Ben J. Riepe gefördert. Es war in den ersten drei Jahren schwierig, uns als eigenständige Künstler zu etablieren. Das erste Projekt mussten wir noch über crowdfunding finanzieren. Hinz und Kunz, Freunde und Familie haben uns Geld gegeben.

Hartmann: Aber dann hat uns schon bald das tanzhaus nrw unterstützt. Bei now & next haben wir kleinere Arbeiten gezeigt. Und seit dem ersten Abendfüller „Melodien zum Träumen” 2014 wurden wir regelmäßig koproduziert. Seit vorletztem Jahr arbeiten wir auch mit dem Ringlokschuppen an der Ruhr in Mülheim zusammen.

HARTMANNMUELLER-Melodien zum Träumen@TANZweb.org_Klaus Dilger

HARTMANNMUELLER-Melodien zum Träumen@TANZweb.org_Klaus Dilger 2014

2015 kam schon der Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen im Bereich der Darstellenden Kunst …

Mueller: Ja, der kam recht schnell. „Melodien zum Träumen“, unser so erstes Bühnenstück, brachten wir 2014 raus. „It is what it is“  folgte 2015 – kurz davor kam schon den Förderpreis.

Seit dieser Spielzeit erhalten Sie die Spitzenförderung des Landes NRW. Gleichzeitig haben Sie sich – zumindest in der jüngsten Arbeit „NO FUN“ –  erstmals auf die Rolle als Choreografen zurückgezogen. Ist das ein grundsätzlicher Bühnenabschied?

Nein. Nein, nein. Wir stehen jetzt seit etwa zehn Jahren auf der Bühne – 2011 haben wir formal HARTMANNMUELLER gegründet – und dadurch die Außenperspektive völlig verloren. Bislang haben wir wir immer andere um ihre Einschätzung gebeten. Es war an der Zeit, dass wir selber einmal auf unsere Arbeit von außen blicken und uns Fragen stellen: Was machen wir da eigentlich? Wie funktioniert der Zeitbegriff in unserer Arbeit? Wie sehr interessieren uns die Grenzen zu Schauspiel, perfomativer und installativer Kunst? Inwiefern interessiert uns eigentlich noch der Tanz? Wenn man selbst auf der Bühne steht, gehen diese Aspekte verloren. Um uns diesen Fragen zu widmen, haben wir beide jeweils zunächst ein Solo entwickelt. Wir wollten noch einmal überprüfen, wo die einzelnen Themenschwerpunkte bei jeden einzelnen von uns liegen: meine ganz persönlichen Daniel-Ernesto-Themen und Simons Simon-Themen. Und dann haben wir den Prozess des Anderen begleitet und uns unsere Stücke gegenseitig gezeigt und besprochen. In unserer letzten Produktion „NO FUN“ haben wir die Bühne dann ganz verlassen und mit drei Performer*innen gearbeitet. Wir wollten beide zusammen von außen auf unsere Arbeit gucken, damit wir zu uns finden, um dann im nächsten Jahr wieder gemeinsam auf der Bühne zu stehen.

HARTMANNMUELLER03©DennisYenmez

HARTMANNMUELLER©DennisYenmez

Wie sieht denn das Konzept für die Spitzenförderung aus?

Mueller: In der Konzeption ging es uns vor allem darum, dass wir unsere äußeren und inneren Strukturen festigen. Mehr Sicherheit für unsere Mitarbeiter*innen.

Hartmann: Außerdem haben wir uns um die Nachhaltigkeit unserer künstlerischen Arbeit Gedanken gemacht. Mit dem tanzhaus nrw Düsseldorf, dem Ringlokschuppen in Mülheim, PACT Zollverein in Essen und der Fabrik Heeder in Krefeld sind wir in NRW schon gut aufgestellt. Aber es gilt noch mehr Brücken zu schlagen. Wir wollen Projekte als work in progress zeigen und andere showings veranstalten.

Mueller: Und wir werden Inhalte von bestehenden Stücken aufgreifen und beispielsweise in ein Museum transferieren, wie aktuell bei tanznrw21 in der Galerie im Park in Viesen. Aus unserer jüngsten Produktion „No Fun“ erarbeiten wir gerade eine Filmadaption und lernen von einem Profi, wie man ein Bühnenstück digital aufarbeitet. Jüngst mussten wir bei unserem ersten Live-Stream feststellen, dass es doch ein ganz anderes Metier ist. Ein Metier, dem wir als Bühnenkünstler gar nicht gerecht werden können. Mit den Mitteln der Spitzenförderung vertiefen wir da unser Handwerk.

NO-FUN2021©Heike-Kandalowski

NO-FUN2021©Heike-Kandalowski

Wie sehen denn die nächsten beiden Projekte innerhalb der Konzeption inhaltlich aus?

Hartmann: Die nächste Produktion ist ein Duo von Daniel und mir. Wir werden auf eine Körperreise gehen und loten noch einmal die Grenzen zum Tanz und die Grenzen zur Musik für uns aus: den kaum fassbaren Bereich der Schwingungen. Der Grenzbereich, in dem Licht und Ton für den Menschen nicht mehr greifbar, wo auf den Gehör- und auf den Sehsinn kein Verlass mehr ist, wo aber das, was wir gemeinhin mit unseren Augen oder Ohren wahrzunehmen gewohnt sind, körperlich spürbar wird.

Für die letzte Produktion der Spitzenförderung haben wir uns offen gehalten, wieder Leute ins Boot zu holen. Die Arbeit mit den drei Performer*innen bei „No Fun“ hat uns schon sehr gefallen. Der Titel lautet „Is this real?“. Darin geht es um die Bedeutung des Live-Moments für die Künstler:Innen und die des Publikums. Und die allgegenwärtigen Auswirkungen digitaler Medien auf das Leben und die Wahrnehmungsmuster der Menschen. Was ist real, was ist virtuell und was fordert und verdient unsere Aufmerksamkeit mehr? Wie wichtig ist der Live-Moment heute noch, sowohl in der Performance-Kunst als auch in der Alltagsrealität der Menschen? Ist er wichtiger denn je oder können wir ohne weiteres auf ihn verzichten?

Wo sehen Sie sich künstlerisch in zehn Jahren?

Hartmann: Soweit habe ich noch nie gewagt zu denken…

Mueller: Uh … das ist mal eine Frage. Also, ich sehe für mich drei Szenarien. Einmal fände ich es total spannend, auf der Bühne gemeinsam zu altern. Wir haben „Das Röhren der Hirsche“ mit Anfang 20 gemacht, mit Anfang 30 wieder aufgenommen und mit Mitte 30 noch einmal gezeigt. Darin geht es um das Mannsein. Es ist sehr plakativ und sehr lustig. Uns darin altern zu sehen, hat eine reizvolle Ebene hinein gebracht. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, für andere Kompanien zu choreografieren. Oder der Weg führt zurück zum Folkwang Tanzstudio und eröffnet die Möglichkeit, mit der nächsten Generation zu arbeiten. Für mich persönlich finde ich es auch interessant zu sehen, ob sich universitär Möglichkeiten ergeben. Mich hat die Arbeit mit Studierenden schon immer interessiert. Aber das wird sich in der Zukunft zeigen. Im Moment erarbeite ich mit einem kleinen Team bei PACT Zollverein ein Kinderstück, das aufgrund der Pandemie nicht live gezeigt werden kann. Deshalb habe ich mich entschieden, es filmisch umzusetzen. Ich merke, je älter ich werde, desto enger rutschen meine Lebensbereiche und Qualifikationen zusammen. Ich bin gespannt, wohin die Reise geht.

Hartmann: Ich bin mal ganz bescheiden und wäre total dankbar, wenn wir auch in zehn Jahren noch künstlerisch arbeiten könnten. Als Künstler lebt man in einer permanenten Abhängigkeit von Geldgebern. Deshalb würde es mich total befriedigen, wenn wir es schaffen, uns auf einem höheren Niveau künstlerisch austoben zu können. Ich finde auch das gemeinsame Altern spannend – wie das Londoner Künstler-Paar Gilbert und George (lacht). Wenn es uns gelingt, da das Pendant in der Düsseldorfer Szene darzustellen, fände ich das total super.

HartmannMüller

HARTMANNMUELLER ©Dennis Yenmez