KONTAKTHOF…
…ECHOES OF ’78
DAS LEBEN FEIERN…
…UND DER VERGÄNGLICHKEIT INS AUGE BLICKEN
Das Wesen von Kunst ist es, stets neu entdeckt werden zu können. Pina Bausch’s KONTAKTHOF aus dem Jahr 1978, eines der Schlüsselwerke der späteren Tanztheater-Ikone, wird mittels der Inszenierung von Meryl Tankard „Kontakthof – Echoes of ’78“, das am vergangenen Dienstag im Opernhaus Wuppertal Premiere feiern durfte, neu definiert, indem die Achse der Zeit und der Vergänglichkeit weit und neu gespannt wird. Tankard konnte es nicht darum gehen, dass KONTAKTHOF von älteren Menschen getanzt wird, das hat Pina Bausch bereits selbst inszeniert, ebenso wie mit Jugendlichen, sondern hier geht es um die Öffnung des Blicks für die Dimensionen des Lebens und den Verlust, der untrennbar damit verbunden und zu akzeptieren oder zumindest zu ertragen ist.
Salomon Bausch, Vorstand der Pina-Bausch Foundation und Sohn der Choreografin, hatte seit längerer Zeit die Idee verfolgt, das Werk mit der Originalbesetzung, 46 Jahre nach seiner Uraufführung, wieder auf die Bühne zu bringen. Mit Meryl Tankard, Teil dieser 78er Besetzung und selbst seit langem erfolgreiche Choreografin und Filmemacherin, hat er die ideale Partnerin für dieses Vorhaben gefunden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es ganz grossartiges, wild und kraftvoll gefilmtes Kameramaterial von Rolf Borzik zu diesem Stück gibt, Pina Bauschs kongenialem und viel zu früh verstorbenen Wegbegleiter und -bereiter.
ZEUGNISSE EINES VERLUSTS IM POSTDIGITALEN ZEITALTER
Für Viele, die mit den ersten Jahren der Compagnie weniger vertraut sind, vermittelt sich in diesen Kamera-Bildern eine neue Erkenntnis: eine überwältigende Individualität, Unmittelbarkeit und Besonderheit des damaligen Ensembles und aller künstlerisch Beteiligten wird deutlich sichtbar. Es sind Zeugnisse, die das Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlusts, der hier nicht thematisiert aber spürbar wird, in einem postdigitalen Zeitalter entstehen lassen. Es ist das damalige verkörperte Schöpfen aus sich selbst in einer Zeit, die vor der permanenten Verfügbarkeit und Auskunft nicht eigener (Lebens-)Erfahrungen liegt.
Wenn die Protagonisten dieses Filmmaterials in das (damalige, oft kleinbürgerlich geprägte) Publikum schauen, das in Wuppertal viel zu lange Tomaten geworfen und sogar Morddrohungen gegen die Choreografin ausgesprochen hatte, wird eine Widerständigkeit und der Zorn der späten 68er Jahre Generation spürbar, die auch im Programmzettel der Uraufführung deutlich wird:
VERGALOPPIEREN SIE SICH RUHIG…
„…Variete? ein Zeigespiel. Von Traurigem, Verzerrtem, von Engem und Schrei, von Schreck und Gelächter und soviel Lust dabei, soviel Laune und Fühlen und Überraschung und Zärtlichkeit, tanzen und flüstern und launige Lieder
Gezeigt wird, und wie wir zeigen, wie wir verstecken oder auf dem Zugedeckten, Verstellten und etwas zu sehen suchen müssen, mühsam oft, fast bräuchte man Sehakrobatik, als wären wir im Zeigezirkus. Hier im Tanzsaal, hier ist Zirkus, hier ist Überallzirkus, Kino.
Alles zeigen oder von allem das, was nie selbst verständlich ist, dieses tief in uns Verzweigte, unsere Selbstverständlichkeiten. Mit den Augen der Pina Bausch sehen wir wie Kinder. Ohne Einübung in Distanzen, auf kein Maß reduziert. Unbegreiflich, unser Selbstverständliches.
FÜR ZWANZIG PFENNIGE…
… oder zwei Groschen, wie es zu einem Zirkuspferd passt, (zu einem Automaten aber eher zwanzig Pfennig) kannst du dich hernehmen lassen zu einem Ritt auf der Stelle; die besten Bewegungsarten haben das auch für sich: man kommt nicht weit weg und hat doch was davon.
Träumen Sie sich einen Rosengarten oder seien Sie Fräulein Grete nachts am Kongo, Sie haben freie Fahrt und Eintritt frei und vergaloppieren Sie sich ruhig, sonst lohnt’s ja nicht. Und falls Sie nicht auf Ihre Kosten kommen, zahlen Sie halt mehr, Sie wissen, eine Theaterkarte ist teuer, sie kostet den Staat Stattliches und deshalb Sie nur die Hälfte und die Frau an der Kasse einen Salto mortale, sehen sie, sie sitzt da mit offenem Mund…“ (aus dem Originalprogrammzettel von 1978)
TANZ MIT SEINEM JUNGEN ICH…
Neun, der ursprünglich zwanzig Tänzerinnen und Tänzer waren am Dienstag auf der Bühne des Wuppertal Opernhauses live zu sehen, die anderen elf lebten in jeder Sekunde in der spürbaren Erinnerung der Protagonisten oder traten in dem Zusammenspiel von Projektionen und Bühnengeschehen in die Leerstellen die ihre älter gewordenen Partnerinnen und Partner für sie offen gelassen hatten. Faszinierend die Präzision, mit der die Tänzerinnen und Tänzer dabei simultan mit ihrem jungen Selbst agieren. Und diesem Amalgam aus Mensch und Projektion, glaubte man noch immer jede Geste, jedes Wort und jeden Blick.
Seine Authentizität verdankt „Echoes of ’78“ einer exzellenten Dramaturgie und hervorragendem Schnitt des Filmmaterials (Kenny Ang und Meryl Tankard), die den Performern den notwendigen Raum und die Zeit zur Entfaltung geschenkt haben und einem ebenso exquisiten Lichtdesign (Ryan Joseph Stafford) unter durchaus schwierigen Bedingungen im Zusammenspiel mit den Projektionen.
ALTERLOSE URGEWALT…
Tankard macht in ihrer Inszenierung Verlust und Vergänglichkeit ergreifend spürbar, ohne jemals weinerlich zu werden, auch wenn bei Manchem im Zuschauerraum am Schluss ein paar Tränen kullerten, wobei einige davon dem Lachen geschuldet sein dürften, für das vor allem Jo Ann Endicott ursächlich war. Diese Frau kann nicht nur urkomisch sein, sie ist zugleich eine tanzende Urgewalt und scheinbar vollkommen alterslos. Diese Feststellung sei erlaubt, ohne die Leistung der Anderen zu schmälern, allesamt auf höchstem professionellen Niveau agierend.
BLICK AUF DIE EIGENE VERGÄNGLICHKEIT…
Klug hat Tankard das Original um gut fünfzig Minuten gekürzt. Vermutlich auch, weil die Tänzerinnen und Tänzer im zweiten Teil des Abends nicht mehr in, sondern vor den stark dynamisierenden Projektionen agieren, was die Wucht der Komposition zu Gunsten der Individualität der Agierenden drosselt, aber auch mehr Kraft abverlangt.
Dabei ging es Meryl Tankard nicht um atemlose Aktion, sondern allenfalls um Handlung, die im Innehalten atemlos macht. So entstehen Bilder, die das Leben feiern, aber die Zuschauenden auch in Abgründe blicken lassen und in die Vergänglichkeit – auch die Eigene.
Die riesigen Projektionen, vor allem im ersten Teil, lassen die Lebenden wie Miniaturen erscheinen. Ein Kunstgriff, der Demut erzeugt.
STANDING OVATIONS…
Am Ende brandete langanhaltender Applaus auf und es gab die verdienten „standing ovations” für die Tänzerinnen und Tänzer: Elisabeth Clarke, Josephine Ann Endicott, Lutz Förster, John Giffin, Ed Kortlandt, Beatrice Libonati, Anne Martin Arthur Rosenfeld und Meryl Tankard, die auch für ihre Inszenierung bejubelt wurde.
Noch bis zum 1.Dezember ist diese berührende und überzeugende Inszenierung in Wuppertal zu sehen, dann geht die Produktion zunächst einmal für zwei Jahre auf Tournee um die Welt, dafür sorgen auch die Co-Produzenten von Sadler’s Wells, Pina Bausch Foundation und
Tanztheater Wuppertal Pina Bauscht: Amare (Den Haag), LAC Lugano Arte e Cultura, Festspielhaus St. Pölten, Seongnam Arts Center und China Shanghai International Arts Festival und hoffentlich gibt es dann auch nochmals ein Wiedersehen in Wuppertal.
credits:
Konzept, Text, Kamera: Klaus Dilger
Editing und Gestaltung: DANSEmedia | berlin
Bildnachweise:
Alle Bilder stammen aus der Generalprobe am
25.11.2024 im Opernhaus Wuppertal