Strahlende Göttinnen und dunkle Mütter
Der belgische Choreograf Damien Jalet lebt zwischen alten und neuen Mythen, Madonna und Tilda Swinton, Pina Bausch und Hexerei
Von Helmut Ploebst
„Ich möchte, dass der Tanz die Hexenkunst ist. Ich will, dass er tötet.“ Ein solch sinistres Ansinnen trug der in Palermo geborene Filmregisseur Luca Guadagnino an den Choreografen Damien Jalet heran, um sein jüngstes Projekt umzusetzen: die Neuverfilmung von Dario Argentos Horrorklassiker „Suspiria“. 2018 kam sie heraus.
Die Einladung des Belgiers Damien Jalet war Guadagninos Glücksgriff. Die beiden Künstler lassen den Tanz sich in den seismischen Bewegungen von Thom Yorkes Musik langsam wie Magma durch den Mantel von Dario Argentos Original aus dem Jahr 1977 schmelzen. Sie geben ihm Zeit, ordentlich Druck aufzubauen, und lassen ihn in mehreren, teils heftigen Eruptionen ausbrechen.
Als Dario Argento gerade mit dem Originalfilm schwanger ging, wurde Jalet überhaupt erst geboren: im August 1976. Anfang Februar des Folgejahres hatte dessen „Suspiria“ Premiere. Die eigentliche Anregung für den Stoff soll von Argentos Lebenspartnerin und Co-Autorin Daria Nicolodi gekommen sein. Ihre Großmutter war die berühmte französische Pianistin Yvonne Müller Loeb Casella. Sie war dem Okkulten nicht abgeneigt und erzählte ihrer Enkelin in deren Kindertagen eine unheimliche Geschichte: Sie sei einmal aus einem Kunst- und Musikinstitut geflüchtet, nachdem sie entdeckt hatte, dass dort nicht nur Unterricht, sondern auch schwarze Magie praktiziert wurde.
Die Pianistin starb 1977 in Rom, einige Monate nach der Uraufführung von „Suspiria“. Als Grund dafür, dass aus dem Institut in ihrer – wahren oder erfundenen – Geschichte im Film eine Tanzschule geworden ist, gab Argento den „magischen Stellenwert“ an, der dem Tanz traditionell zugeschrieben wird. Damit konnte sich Damien Jalet, der sich für das Magische und Mythische brennend interessiert, durchaus identifizieren. Rituale und Mythen, sagt er, „speichern unbewusstes Wissen“. Das Rationale, das „Bewusstsein“ werde erst „spannend, wenn wir es ins Verhältnis zum Unbewussten setzen“.
Die Assoziation von Tanz mit Hexerei hat den Choreografen gefesselt. Zu den Triebkräften des Tanzes gehören eben aucb das Wilde und die Vitalität genauso wie Glanz und Finsternis. Verdrängte kulturelle und psychische Abgründe werden sichtbar, die immer wieder neu entdeckt werden, indem er – wie auch in seinen Bühnenarbeiten von „Three Spells“ (2008) über „Black Marrow“ (2009, mit der isländischen Choreografin Erna Ómarsdóttir) bis „Omphalos“ (2018) – seine Kunst als Verbindung zwischen Wissenschaft und Mythologie versteht. Wenig verwunderlich, dass Jalet schon ein Fan von „Suspiria“ war, bevor er Luca Guadagnino kennenlernte. Argentos „Suspiria“ gehörte, sagt er, zu den Einflüssen auf genau jene Performance, mit der Guadagnino 2013 auf ihn aufmerksam geworden war: „Les Médusés” – von Jalet übersetzt als „Die Verhexten“ –, ein Parcours aus sieben Tänzen in den Räumen des Pariser Louvre.
Das zweite Stück darin – ein expressionistisches Frauen-Trio – dürfte den Regisseur besonders inspiriert haben. Meytal Blanaru, Clara Furey und Vittoria De Ferrari Sapetto tanzen drei Statuen, zu einer Art Zombieleben erweckt, als würden sie von einem mächtigen Zauber gelenkt. Als Nymphen-Wiedergängerinnen bewegen sie sich präzise in scharfen Winkeln, als wollten sie ein Gefangensein beschreiben. Am Ende stürzen sie, begleitet von einem splitternden Geräusch, zu Boden.
Diesen Tanz erweiterte Jalet für Guadagninos Film, verdichtete die Bezüge zu Mary Wigmans „Hexentanz“ und transformierte sie in die Rekonstruktion eines Stücks mit dem Titel „Volk“. Die Einstudierung besorgt im Film Madame Blanc, eine kettenrauchende Hexe, die wie eine dämonische Wiedergängerin von Pina Bausch wirkt. Dargestellt wird diese Figur von Tilda Swinton, die im noch zwei weitere Rollen spielt. Eine davon ist die des Psychologen Jozef Klemperer, in dessen Praxis – eine kurze Einblendung – C. G. Jungs Buch „Psychologie der Übertragung“ zu sehen ist.
Ein Wimpernschlag, der in Hinblick auf Damien Jalet als ein Schlüsselmoment gesehen werden kann. Denn wie auch der Choreograf war Jung der Auffassung, dass sich im Mythologischen das Unbewusste spiegelt. In seiner „Psychologie der Übertragung“ analysierte er so einen spätmittelalterlichen Text zur Alchemie, somit eine Darstellung früher Forschung zwischen Mythologie und Wissenschaft. Der greise Klemperer wird gegen Schluss des Films gezwungen, sich eine blutige Tanzorgie in einem Kellerraum anzusehen, für die Jalet und Guadagnino alle Register der Splatterkunst ziehen: Ein Ritual zur Lebensverlängerung von Helena Markos (Tilda Swintons dritte Rolle), der siechen Meisterin der Tanzkompanie, gerät außer Kontrolle.
Markos hatte sich bis dahin in den Kellern des Gebäudes verborgen, in dem die Kompanie eine Tanzakademie betreibt. Doch unter diesen Gewölben befindet sich ein weiteres Gelass, aus dem eine schwarze Gestalt steigt, die dem Hexenzirkel sozusagen den richtigen Weg weist. Nicht Helena Markos wird nun die irdische Verkörperung der „Mater Suspiriorum“, sondern die Protagonistin Suzie Bannion. Wie schon Argento nutzt auch Guadagnino für diese übersinnliche Metapher des Unbewussten den fiktiven Mythos der „Ladies of Sorrow“, den der britische Schriftsteller und bekennende „Opium-Eater“ Thomas De Quincey 1845 in seinem Buch „Suspiria de Profundis“ niedergeschrieben hat.
Auch hier gibt es wieder eine schöne Verbindung zu Damien Jalets „Les Médusés“: Im einleitenden Solo – „Venus in Furs“ aus dem Jahr 2008 – schält sich aus einem putzig wirkenden, weißpelzigen Tentakeltier eine ebenso erotisch wie bedrohlich wirkende Frauengestalt. Sie trägt einen juwelenglitzernden schwarzen Ganzkörperschleier: die Venus des Leopold Sacher-Masoch im sternenbesetzten Nachthimmel. A Star is born! Unmittelbar auf „Venus in Furs“ folgte in Jalets „Les Médusés“-Parcours das Trio der drei tanzenden Nymphen. Der Ort für den Auftritt inmitten einer spektakulären Aufstellung von historischen Nymphen-Statuen war mit Bedacht gewählt. Die Tänzerinnen traten auf zwischen diesen „Stars“ des glasüberwölbten Cour Marly im Louvre, den steinernen Zeugen der abendländischen Leidenschaft für die antike Mythologie.
Die Begeisterung für das Hellenentum ist verflossen, doch die Leidenschaft für das Überirdische dauert weiter an. Sie hat nur andere Wege eingeschlagen. Götter, Nymphen und Magier werden industriell hergestellt. Die Popkultur produziert die zugehörigen Mythen, und im Olymp des Show-, Film- und Musikbusiness herrscht ein Kommen und Gehen, um Göttinnen wie Madonna, Zauberinnen wie Florence Welch von Florence and the Machine oder Feen wie Ólöf Arnalds an die medialen Oberflächen zu spülen.
In dieser Wirklichkeit pflegt Damien Jalet nicht nur den Blick zurück ins Dunkel der Kulturgeschichte, sondern auch eine Passion für die „mythischen“ Figuren des Pop. Bei Madonnas jüngster Tournee „Madame X“ (2019/20) arbeitete er als künstlerischer Berater des Superstars mit. Jalet choreografierte vier Nummern, darunter ein Video zu „Frozen“, in dem Madonnas Tochter Lourdes Leon als überdimensionale Schwarzweißfigur hinter ihrer live singenden Mutter tanzt. Eine wunderschöne, traurige Nymphe im Gefängnis des Ruhms ihrer düster glitzernden Übermutter.
Musikvideos gehören mit zu den Medien, in die sich Damien Jalet als Choreograf und Tänzer einbringt. 2009 tanzte er mit Alexandra Gilbert für die Band Editors in deren Clip „You Don’t Know Love“, im Jahr darauf begegnete er Ólöf Arnalds für „Surrender“ im Wald mit der geisterhaften Stimme von Björk im Hintergrund. 2011 choreografierte er einen Voodoo-Tänzer für das Video „No Light, No Light“ von Florence and the Machine.
Sein Faible für das Spiel mit Mythen lebte Damien Jalet 2016 auch in dem experimentellen Film „Le Passeur des lieux“ („Der Fährmann“) von Gilles Delmas aus. Die Tänzer mit abgeklemmten, verdrängten Köpfen tauchten in demselben Jahr auch in Jalets Bühnenstück „Vessel“ wieder auf. Und der Protagonist mit Hirschgeweih in „Le Passeur des lieux“ spukte bereits 2008 durch „Three Spells“ und ging fünf Jahre danach wieder um, bei „Les Médusés“.
Nach Fertigstellung von Guadagninos „Suspiria“ meldete sich Thom Yorke bei Damien Jalet. Der Musiker wollte mit ihm einen Film zu seinem Album „Anima“ produzieren: Die Regie übernahm US-Starregisseur Paul Thomas Anderson. Der Choreograf führte eine um 34° hochgeklappte Ebene in den Film ein, wie er sie 2017 für sein Bühnenstück „Skid“ verwendet hatte. An den Rand dieser Ebene montierte Anderson eine Kamera so, dass die gekippte Fläche als horizontaler Boden aufgenommen wurde. Das Ergebnis wirkt wie eine durch Zauberkraft herbeigeführte Manipulation der Schwerkraft.
Die Kunst der Übertragung gehört zu den Erfolgsgeheimnissen des heute 43-jährigen Damien Jalet: Das Hin- und Herfließen von Kräften zwischen verschiedenen künstlerischen Genres ebenso wie das Eintauchen in das alles verwertende Kommerzgetriebe der Popindustrie, und natürlich die Wechselwirkungen zwischen historischen und neuen Mythen, dem Bewusstsein und dem dieses steuernden Unbewussten. In Luca Guadagninos „Suspiria“ stellt Madame Blanc eine mustergültige Übertragung her: Während Suzie Bannion „oben“ im Studio ein Solo probt, übertragen sich ihre Bewegungen auf eine Tänzerin, die „unten“ – im Keller des Gebäudes – in einem verspiegelten Studio gefangen sitzt. Diese Verbindung zerstört den Körper der Gefangenen.
Guadagninos Madame Blanc erinnert, eben weil sie wie eine Wiedergängerin von Pina Bausch wirkt, an einen der seltenen Ausflüge des Wuppertaler Tanzsterns ins Filmgenre. Im Jahr 1983 stellte Pina Bausch als Schauspielerin bei Federico Fellinis „E la nave va“ einen abgründigen Charakter dar: die blinde, von unterdrücktem Hass erfüllte Principessa Lherimia, die mit einer anachronistischen Gesellschaft aus Stars und Größen des Fin de Siècle auf einem Schiff dem Untergang entgegenfährt.
Auf eine ähnliche Apokalypse läuft auch die Tanzorgie zur Lebensverlängerung von Helena Markos gegen Ende von Luca Guadagninos „Suspiria“ hinaus: Wer von den Anwesenden sich zu Markos bekennt, muss sterben. Die aus den Tiefen unter dem Keller hervorgestiegene „Mater Suspiriorum“ bevorzugt die junge Tänzerin Suzie Bannion als neues Körpergefäß. Bei Dario Argento 1977 ist die Protagonistin noch vor der Finsternis geflüchtet. In Guadagninos und Jalets Neuinterpretation nimmt Bannion die „Mutter der Seufzer“ in sich auf. Damit ein neuer Tanz beginnen kann.