2024-10-07T00:00:00+01:00
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Romantischer Geniekult – sperrige Moderne

Rachmaninow / Tschaikowsky“ – neues Doppelprogramm von Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang

Eine Nachtkritik von Nicole Strecker

Falsches Theater? Falsche Show? Entschuldigen Sie, ist das hier die Blue Man Group? Nein, es ist wohl doch Xin Peng Wang, der diesmal allerdings seinem unerschrockenen Kostümbildner Bernd Skodzig gestattet hat, den Tänzern lack-blaue Schminke ins Gesicht zu schmieren – pardon, in seinem Fall ist es natürlich das kunsthistorisch geadelte ‚Yves-Klein-Blau‘. Außerdem stecken sie in ebensolchen Morphsuits, hautengen Ganzkörperanzügen, die ihre Identität, Geschlecht, Alter, Hautfarbe, komplett verschleiern. Wie nächtliche Diebe schleichen sie sich nun zu Beginn des Abends auf die Bühne, als wollten sie sich den Raum stehlen, noch bevor Sergej Rachmaninows überwältigendes drittes Klavierkonzert ihn ausfüllen kann. Dämonisch-weich huscht der erste Tänzer herein, der nächste zuckelt in Robot-Moves, dann ein Tänzer im Vierfüsslergang mit langgestreckten Beinen wie ein elegantes Tier, bis schließlich, nach 17 individuellen Auftritten, ein Tänzer wie eine Statue mit zum Himmel erhobener Hand posiert als verkündige er die Ankunft des Göttlichen: Auftritt des Pianisten Nikolai Tokarev.

Sein „Rachmaninow“ ist ein großartig kitschfreier Romantiker. Tokarev mag gelegentlich bei besonders furiosen Läufen vom Pianistenschemel abheben, aber selbst wenn er sich heftig in den Weltschmerz stürzt, verliert er nie die intellektuelle Kontrolle und Grandezza. Sein Spiel straft die Lästerer Lügen, die Rachmaninows Musik wegen ihres „slawischen Jargons“ (Theodor W. Adorno – was auch immer das heißen mag) schmähten, oder sie gar als „gefühlvolle Jauche“ (Richard Strauss) bezeichneten. Und noch weniger unter Pathos-Verdacht gerät Xin Peng Wangs sportlich-schnelle Choreografie. Große Emotionsgesten? Tragische Zerrissenheit, gepflegte Depression? Nichts davon bei Wang. Wie einst die Surrealisten mit ihrer „écriture automatique“ so scheint Wang nun mit einer Art „chorégraphier automatique“ experimentiert zu haben: Skizzenhafte Abläufe, in denen alles organisch ineinanderfließt und die überraschend oft aus dem Streetdance-Vokabular zitieren. Ein Eindruck, der auch durch das Bühnenbild von Frank Fellmann unterstützt wird: Er hat den Tänzern eine sanft-gewölbte, rostgoldene Wand hingestellt, die sie hochhrennen und herunterrutschen können wie Skater in einer Halfpipe. Manchmal formieren sich die Tänzer zu Skulpturen, die an die Monumental-Ästhetik des sozialistischen Realismus denken lassen. Meist aber verzichtet diese Choreografie auf einprägsame Bilder, auf den einen besonderen Moment, der sich im Gedächtnis festbeißt – was allerdings auch ihre Schwäche ist. Denn was bleibt von dieser Überfülle? Die bizarre Komik der Kostüme, ein fantastischer Pianist – die Kompanie samt Juniorkompanie, die man beide so liebt und feiert, verschwindet in monochromer Anonymität.

Denn derzeit pflegt man offenbar den schwärmerischen „Geniekult“ beim Dortmunder Ballett. Keine Ankündigung, in der nicht stolz darauf verwiesen wird, dass die Top-Player der Bayern, Lucia Lacarra und Marlon Dino vom dortigen Staatsballett in den Ruhrpott gewechselt haben. Xin Peng Wang muss einen Narren an ihnen gefressen haben, das Publikum folgt ihm begeistert und sonnt sich im Glanz der Ex-Münchner Schickeria. Und ja: Die Luftnummern des Paares, die sie im zweiten Teil des Abends ausgiebig abzwirbeln, sind toll. Atemberaubend, wie akrobatisch der Hüne Dino seine winzige Partnerin Lacarra kopfüber hinter seinem Rücken baumeln lässt und sie dabei – ja, wo eigentlich? – quasi mit zwei Fingern festzuhalten scheint. Und dass sie ihm blind vertraut, während sie in dieser Position die langen Beine zum Spagat spreizt, muss natürlich auch noch gezeigt werden: Sie hält sich die Augen zu.

TSCHAIKOWSKY; Lucia Lacarra, Marlon Dino, Coprs de Ballet  © Bettina Stöß

Aber in welcher Epoche sind wir hier eigentlich? Alles im Tanz der beiden ist ätherisch, lyrisch, attraktiv und vor allem: langsam. Heilige Andacht! Da gibt es nur eine Rezeptionshaltung für den Zuschauer: Runter, auf die Knie mit ihm! Dass längst ein anderer Typ Ballerina die Bühnen erobert hat – cooler, aggressiver, sinnlicher -, weil ja auch ein anderer Typ Frau in der Gesellschaft vorherrscht, hat schon die Trash-TV-Serie „Flesh and Bone“ gezeigt: Dort wird die routinierte Russin von der empfindsamen Newcomerin kaltgestellt. Die Vergangenheit in Dortmund hat längst bewiesen: Auch hier versteht man sich darauf, selbst seine Stars aus der Kompanie heraus aufzubauen. Wie erfolgreich Wang mit seiner Ensemble-Arbeit ist, zeigt etwa auch ein erfreulicher Wechsel in der Programmierung an der Oper Bonn: Dort verzichtet man in diesem Jahr auf die Einladung von russischen B-Kompanien, die mit vermeintlich ‚originaltreuen‘ Handlungsballetten touren, und zeigt lieber die eigenwillig-moderne Adaption des „Nussknackers“ von Xin Peng Wangs Dortmunder Ballett in der Choreographie von Benjamin Millepied .

Doch sein fantastisches Ensemble wird am neuen Wang-Abend eben entweder in den ultramarinblauen Bernd-Skodzig-Strumpf gesteckt oder bleibt walzerschunkelnder Pausenfüller zwischen den dramatischen Acts von Lacarra-Dino. Zu Peter Tschaikowskys berühmter Symphonie Nummer 6, seiner mysteriösen „Pathétique“ erzählt das Paar mit kühler Noblesse vom Traumpaardasein, dann Todesahnungen und Trennungsschmerz. Über ihnen schwebt eine silbrige Korallenskulptur, Kostümbildner Bernd Skodzig hat diesmal allen eine exquisite Ballett-Haute-Couture auf den Leib geschneidert und die Dortmunder Philharmoniker lassen Tschaikowskys Melancholie unter Leitung von Gabriel Feltz wunderbar behutsam an- und abschwellen. Erst im dritten Satz, zu den Marsch-Motiven dürfen auch die Tänzer der Kompanie zeigen, was sie drauf haben und sich gegenseitig mit Klassiker-Zitaten übertrumpfen: Schwanensee-gleiche Fouettés mit beinschlagenden Pirouetten und spitzenschuh-trippelnder Giselle-Charme für die Damen, feuerzüngelnde Drehungen und Prinzensprünge en manège für die Herren. Eine Gala ohne kühle Perfektion, dafür mit todesmutiger Hitzigkeit – so geht Tschaikowsky, so treibt der Lieblingskomponist der Ballettwelt noch heute junge Tänzer an ihre Grenzen. Und bei allem Widerwillen gegen den Kult um Celebrities: Es bleibt doch ein heftig zwischen den Extremen taumelnder Abend über die russische Romantik: total sperrig und einfach nur schön.

 

TSCHAIKOWSKY; Marlon Dino, Lucia Lacarra  © Bettina Stöß

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