Das Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch hat „Arien“ wieder einstudiert, ein Stück von 1979, das zuletzt im Jahr 2000 aufgeführt worden war und dann 2017 neu einstudiert wurde. Hat sich die Ausgrabung gelohnt?

Nachtkritik von Melanie Suchy (vom 17.Mai 2017)

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Die Polkappen schmelzen. Der Meeresspiegel steigt. Hier steht er zwar, aber ist schon im Haus. Und das ist schon so normal, dass sich keiner drüber wundert. Die Leute schlappen einfach durchs Wasser, als sei es Velourteppich, Linoleum oder Parkett. Schritt, Schritt, patsch, patsch, patsch. Einzelne setzen sich auch einmal mal hin oder legen sich. Nur schauen sie alle nie wirklich in diesen Spiegel hinein. Denn wen sähen sie da? Vielleicht ist das einer der Schlüssel, mit denen man sich dieses alte Stück von Pina Bausch aufschließen kann. Würden sie sich in ihr eigenes Bild verlieben und ertrinken? Oder erschrecken? Oder nichts erkennen? Aus Furcht vor der Wahrheitstiefe eines stillen Wassers geben sie ihm keine Ruhe.

Natürlich war 1979 noch keine Rede von Global Warming, schade eigentlich, es hätte wohl einiges an Weltzerstörung verhindert werden können. Aber dass die Bühne im Wuppertaler Opernhaus ein paar Zentimeter unter Wasser steht, und die Tänzer sich in diesem Raum geschäftig tummeln, als wäre nix, sich schminken, plaudern, Texte und Faustschläge einüben, Witze erzählen, Stühle umstellen, das ist betont unpassend. Absurd. Ein bisschen komisch. Oder eben ignorant: Man lässt sich doch seine Routine, seinen Spaß, seine geliebten Grässlichkeiten nicht verderben durch eine Riesenlache.

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Die „Arien“ leben durch diese Untiefe. Durchs Nicht-Stimmen. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss, heißt es. Sprich: Dinge verändern sich. Aber dies hier ist stehendes Gewässer. Darin liegt – manchmal buchstäblich – nicht nur eine Zukunftslosigkeit, sondern eine seltsame Rückgewandtheit. Obwohl ja jene Garderobenatmosphäre so tut, als sei sie auf etwas Künftiges gerichtet. Dabei wiederholt sie sich in einer späteren Szene einfach. Einmal steht die ganze, diesmal schwarz gekleidete Tänzergesellschaft still im hinteren Beckenbereich, verhalten feierlich, fast verlegen zurückhaltend, wie Leute bei einer Beerdigung. Flüstern, Stille. Ein hallendes „plitsch“ wie in einer Höhle. Niemanden sieht man wirklich trauern; dies hier ist nur Konvention. Es wirkt wie ein Verschweigen. Von Schuld, von Tod. Die andere Art des Verschweigens von Gefühl ist in den „Arien“ das Geschrei. Die Übertreibung. Immer wieder fallen die Tänzer plötzlich in ein Rufen, Juchzen, Kreischen, hysterisches Lachen ein, dass es der Zuschauerin in den Ohren wehtut. Es ist schwer zu ertragen. Es ist bewusst zu laut, es sind falsche Töne. Man kennt das Spiel der Choreographin mit Mechanismen des Entertainments, der Zurschaustellung in diverser Form, dessen inhärente Kritik etwas Staub angesetzt hat. Auch strapazieren die falschen Enden und die etwas ruppige Dramaturgie die Geduld. Doch haben die „Arien“ großartige Momente, weil sie mehr zu bieten haben: weil sie mehrstimmig sind.

ARIEN ©TANZweb.org_Klaus Dilger_Arien

ARIEN ©TANZweb.org_Klaus Dilger_Arien

Mensch und Tier

In „Kontakthof“ ein Jahr zuvor, 1978, hatten sich die Kontaktsuchenden in einer Szene wie Kinder vor einen Schulfunkfilm gehockt, in dem von heimischen und eingewanderten Enten in einem Teich die Rede war. In den „Arien“ werden die Tänzer zeitweise selber zu exotischen Vögeln mit ihrem Geschrei. Denn sie zwitschern, krähen, quaken ja nicht. Die Atmosphäre auf der Bühne mit dem flachen großen Bassin und seinen trockenen Ufern erinnert so auch an einen Zoo, einen anderen artifiziellen Lebensraum. Artgerechte Haltung bedeutet in diesem Fall: Garderobenspiegel, Stühle.   Wie ein Rassepferd oder einen Zuchterfolg preist der Tänzer Michael Strecker in einer Szene eine Frau an: „Aus gutem Hause, Internat, Abitur, deutsch, feste Schenkel, intelligent, aber nicht zu sehr“. Julian Stierle, in Unterhose, macht den Yoga-Frosch, klemmt die angewinkelten Knie auf die seitlich aufgestellten Arme, und er fasst im Sitzen mit den Händen an die Füße und zieht sie hintern Nacken, und das so weit hinten auf der Bühne, dass es wie ein  komisch verzerrter, fast nicht menschlicher Körper wirkt. „Self unfinished“ nannte ein Xavier Le Roy so etwas zwanzig Jahre später.

Unfertig, fertig gemacht

Außerdem gibt es, bevor das einzige wirkliche Tier auftritt, eine Völkerschau, wie Zoos sie anno dazumal boten: Die Frauen sitzen in einer braven Reihe frontal zum Publikum auf Stühlen, völlig passiv; durchs Wasser eilende Herren drapieren sie mit Klamotten, Bändern, Schleifen, Tüchern, Ketten, Kopfschmuck und bemalen ihre Gesichter. Zu Fürstinnen oder Bräuten auf alten Fotos werden sie, festlich geschmückt, aber wie leblos. Diese übertünchte Traurigkeit in Form der Farbstriche im Gesicht tragen die Tänzerinnen, später auch die Tänzer, hinfort durchs Stück. In frühen Kritiken las man daraus Kindergeburtstagsspäße, weil mehrere solcher Sing- und Geschicklichkeitsspielchen vorkommen, nur halt ohne Spaß. Sogar eine „Reise nach Jerusalem“. Sie sind wie vorgeführte Riten der Zugehörigkeit und Ausgrenzung, grundiert von einem Gefühl der Fremdheit wie von dem Wasser, in dem sie sitzen und rennen und das in ihre Kleidung kriecht.

Von fremden Ländern und Menschen:

So heißt eines der Klavierstücke aus Robert Schumanns „Kinderszenen“, die zwischendurch aus den Lautsprechern tönen. Mozarts „Kleine Nachtmusik“ wird in einer alten Aufnahme gebracht, die der Nacht auf unangenehm deutsche Weise den Marsch bläst. Für Schmelz sorgen der andere Unsterbliche, Beethoven, mit dem Anfang seiner „Mondscheinsonate“, eine süffig jazzig-saxophonige Version von „Stormy weather“, die Comedian Harmonists und, ja, auch mal Arien, melancholischer Gesang auf Italienisch. Schöne Männerstimmen, Echos einer versunkenen Zeit.

Zu dieser gehören auch das wiederholte müde Aufsagen des  Goethe-Gretchen-Liedes am Spinnrad, “Meine Ruh‘ ist hin“, und Gemäldezitate: Wenn einige Tänzer am Boden hocken, im Nassen, die Köpfe hängen lassen, mal das Bein umarrangieren, mal den Arm, ganz ausgeleert wirken, sieht man sie im Geiste „an den Wassern zu Babel“ sitzen. Tatsächlich stolziert eine Weile später ein Tänzer zwischen ihnen hindurch und ruft wichtigtuerisch wie ein Museumsführer eine Bildbeschreibung in den Raum, über die „atmosphere“, den „contrast“ einer Farbe, und deutet auf einen Trauernden: „the body is entangled on the floor for that hopeless look“. Das ist lustig und bitter zugleich, und man staunt über die so zeitgenössisch anmutende Künsteverschränkung. Einen besessenen Selfie-Photographen, mit der damaligen Technik einer Kamera auf Stativ und mit  Selbstauslöser, schiebt Pina Bausch hier auch schon durchs Bühnengetümmel, und sie entgendert zeitweise die Tänzer, indem alle, Männer und Frauen, in weißen Kleidchen stecken. Mit ihren pseudogriechischen Posen weisen sie zurück in die Isadora-Duncan-Zeit und deren Aufführungen der „lebenden Bilder“. Inmitten dieser albernen Stimmung erniedrigt aber ein Kleidchenmann einen anderen, drückt ihn zu Boden, führt ihn ab wie einen Beschämten. Der Oberfläche einer munteren Feier ist nicht zu trauen.

Mein Herz ist schwer

So ist das Tanzen selber dann wie ein Versuch, Luft zu schnappen in einer überfluteten Welt, ein schnelles Ausgreifen, Öffnen, Einknicken, Herumwirbeln um die eigene Achse, und schon wieder vorbei. Manchmal rennt ein Partner hinter solchen Tanzenden her und schreit, als müsse er sie oder ihn retten vor dem schönen Rausch. Das Gegenteil dieser Luftnummern ist schließlich das Nilpferd, das lebensgroß, grau und schwer den ebenfalls damals von Rolf Borzik konzipierten Bühnenteich betritt, schlapp, schlapp, und eine surreale Seelenruhe zu verkörpern scheint. Zumal es von den Tänzern ignoriert wird. Außer von einer: Sie ist diejenige, die bei Partnertänzen allein bleibt, die das Lachen als Stimmübung, „dreimal ha“, lernen sollte und mit dem leisen Schluchzen, „ha, ha, ha“, dann nicht mehr aufhört. Für sie, Breanna O’Mara, existiert das Niltier. Als Traum, als freies Wesen, als Zoo-Insasse? Das bleibt offen, uneindeutig, wie zum Glück so vieles in den „Arien“. Sie lächelt ihm beseligt zu. Man möchte sie warnen. Man kann sie verstehen.

Konservenunwetter

Die “Arien“  sind alt, sie sind ein Museumsstück, aber ein wertvolles und unbedingt sehenswertes. Deshalb ist es großartig, dass die Wuppertaler Zeit investiert und es aus der Kiste geholt haben. Die Besetzung  mit vielen Tänzern der neuesten Kompaniegeneration zeigt aber auch, dass eine Wiederbelebung im Jahr 2017 an ihre Grenzen stößt. Manches wirkt dann eben bloß einstudiert, was dem vielschichtigen Geschehen eine Fremdheitsebene zuviel einzieht.

Sitzen sie alle im selben Boot? Nein, das Boot ist gesunken. Im Eismeer, in New Orleans, Bangladesh, Tuvalu, Fukushima. ms

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