Flussüberquerung

Ben J. Riepes „Creature“ ist ein filmischer Parcours durch das Wuppertaler Schauspielhaus und durch Erinnerungen

von Rico Stehfest

Es ist vor allem ein Ort der Vergangenheit, ein Ort, der Erinnerungen in sich selbst gespeichert zu haben scheint. Das alte Wuppertaler Schauspielhaus hat bekanntlich seine besten Zeiten längst hinter sich. Der langsame Verfall des Hauses steht den Bemühungen um dessen Erhalt so entgegen wie Erinnerungen dem Tod. Ben J. Riepe nutzt diesen Umstand für seinen Ansatz der Choreografie des Raumes, um Teile seines Recherchematerials für die Arbeit „Geschöpfe“ hier in einem immersiven Parcours filmisch zu verarbeiten. Wie immersiv dieses Ausweichen auf die Distanz per Kamera gelingen kann, ist in einigen Momenten tatsächlich erstaunlich.

Ben J. Riepe entführt den Besucher „auf die andere Seite“. Gleich am Eingang wird der Zuschauer persönlich empfangen, eine strenge Concierge in Schwarz wird mit knappen Worten durch das Haus leiten. Dabei blickt sie exakt den einen Moment zu lange in die Kamera, um dieses unangenehme Gefühl zu verursachen. Das wird sie immer wieder tun. Den Zuschauer lässt sie damit in keinem Moment los. Es ist eine unheimliche Macht.

Und schon findet man sich in einem Raum ohne Wände, voller Bühnennebel, entgrenzt. Die Concierge, sie ist Charon und hat uns direkt und auf kürzestem Weg hinüber gerudert über den Acheron. Willkommen im Hades. Schau Dich um! Aus dem Nebel tauchen einzelne Performer auf, verschwinden wieder. Vereinzelte Pflanzen. Leben gibt es hier aber keines mehr. Im Chor singen die leblosen Stimmen „In einem kühlen Grunde“. So sanft, so schauerlich.

Screenshot_creature©Ben J. Riepe

Kaum hat man Gelegenheit, das Wo und Warum zu reflektieren, schon folgt ein harter Bruch. Der Innenhof des Schauspielhauses ist es dann, der Reflexionsort wird. Filmische Überblendungen vermischen Performance zwischen den Hecken mit Interviews, deren Beteiligte namenlos bleiben. Es sind aber die bekannten Gesichter aus der Company von Pina Bausch. Nazareth Panadero, Julie Shanahan und weitere. Sie sind die Erinnerungsträger, die diesen Ort als ein lebendiges Etwas erlebt haben und davon berichten. Das Haus, es war die Kreatur aus dem Titel, viel menschlicher als die Stimmung in dieser Arbeit. Nicht ohne Grund meint Nazareth Panadero: „Das Haus sagt ‘Mach, was Du willst! Ich bleibe hier.’“

Ganz woanders hingegen, jenseitig, sind im Gegensatz dazu Waithera Schreyeck und Eray Gülay in ihrem Duo aufgestellt. Zwei rudimentär wirkende Kreaturen, vielleicht post-human, vielleicht prähistorisch agieren sie kantig, tastend, aneinander, beieinander, fremd dem Anderen gegenüber. Die Körper schwarz gepanzert, urban warrior ohne Kampf, mit leerem Blick. Auf ihrem Rücken tragen sie jeweils die Vergangenheit oder die Zukunft, wer kann das schon so genau sagen? Es sind Flachbildschirme, auf denen ein Video zu sehen ist, in dem Performer aus dem Team um Ben J. Riepe auf einer abgeholzten Waldfläche wie ein bacchantisches Fest begehen, allerdings kein Ritual, keine Regeln. Lachen und weinen, stöhnen, ächzen. Diese „Wilden“ sind das Gegenteil ihrer Träger. Worin liegt der Unterschied zwischen Mensch und Kreatur? Was ist Vergangenheit, was Zukunft?

Genau solche Gedanken, aber eben auch Erinnerungen schriftlich festzuhalten, dazu bekäme der Besucher tatsächlich Gelegenheit, könnte er vor Ort sein. So bleibt es bei einer kurzen, handschriftlichen Notiz der Concierge, die ihren „Brief“ sorgsam und aufwendig faltet, versiegelt und dem Zuschauer entgegenstreckt.

Das war’s. Die Tür nach draußen öffnet sich und man kann sehen, dass es inzwischen fast dunkel geworden ist. Da kommen noch einmal die Zeilen von Eichendorffs Gedicht in den Sinn: „Ich möchte‘ am liebsten sterben / da wär’s auf einmal still“.

Screenshot_creature©Ben J. Riepe