Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nimmt den Brecht-Weill-Tanzabend „Die sieben Todsünden“ von 1976 wieder auf. Hat er denn auch sieben Leben?

 

Kritik | Nachtkritik von Melanie Suchy

 

Fast zehn Jahre waren „Die sieben Todsünden“ nicht in Wuppertal zu sehen, die Pina Bausch mit der Song-Szenenfolge „Fürchtet euch nicht“ 1976 zum „Tanzabend“ kombiniert hatte. Verbunden wird er durch die Musik von Kurt Weill, live vom Orchester gespielt, und gesungene Texte von Bertolt Brecht. Im November 2008 war die Wiederaufnahme im Rahmen von „Fest mit Pina“ im Schauspielhaus gezeigt worden, und, Sensation damals: Die Originalbesetzung der Hauptfigur in den „Todsünden“, Josephine Ann Endicott, tanzte wieder, auf Entscheidung der Choreographin. Doch nahm man ihr die Rolle des jungen Mädels Anna II nicht mehr ab, höchstens eine Art der verqueren Erinnerung an einst. Und jetzt, neun Jahre nach dem Tod von Pina Bausch, ist diese Tänzerin wieder auf der Bühne; im zweiten Teil des Abends, mit auffordernd wackelnden Schultern, rechts hoch, links hoch, mit gelüpftem Rocksaum und Eroberungsblick: Hier bin ich, „geht’s noch?“, ruft sie, legt mir euren Applaus zu Füßen, meint sie. Das Publikum gehorcht.

 

Aus Anerkennung, aus Neugier, wohl auch aus Treue und Rührung. Denn die Frage nach der „Besetzung“ dräut über jeder der Wiederaufnahmen gerade der älteren Stücke. Wer von den langjährigen Tänzern und Schauspielern, mit denen und für die Pina Bausch gearbeitet hat, tritt noch auf, und wer von den Neuzugängen übernimmt welche Rollen und füllt sie wie aus? Ist das Stück noch, was es sein soll? Wahrscheinlich auch deshalb nimmt die neue Intendantin Adolphe Binder jene alten Bausch-Stücke aus der Kiste, um ihre Überlebensfähigkeit zu überprüfen. Vielleicht sagt man ihnen ein letztes Mal Good bye. Die Schauspielerinnen Cora Frost und Therese Dörr haben bei diesem Abend nicht ganz überzeugt; die 74-jährige Ingeborg Wolff hatte wenigstens die richtige Prise Selbstironie, als sie die „Puppen, mehr Puppen!“ um sich scharte und ihren letzten Seufzer tat. So resch wie sie beim Auftritt tut dieser „Tanzabend“ auch, doch ist manches an ihm ebenso etwas alt geworden.

 

Ramschware

 

In den „Sieben Todsünden“ ziehen zwei Schwestern namens Anna durch sieben Städte Amerikas, um Geld für eine kleines Haus für die Familie, für Eltern und Brüder, zu verdienen. Anna I, die Praktische, organisiert, wie Anna II, „meine Schwester ist etwas verrückt“, die Tänzerin, sich selbst zu Markte trägt. Das berichtet Cora Frost im züchtig schwarzen Kostüm, singend, während sie die Schwester im Blumenkleidchen, Stephanie Troyak, mit Kamm, Bluse, Rock und Schuhen ausstaffiert, dressiert und einen Scheinwerfer auf sie richtet. Für das naive oder träumende Mädchen ist er Sonnenschein, und derart verblendet läuft sie in ihr Verderben, von Station zu Station, von „Sünde“ zu „Sünde“. Posiert erst erschreckt, dann lustvoll für einen Photographen, lüpft den Rock, lässt sich von Männern antatschen, tanzt im fleischfarbenen Unterkleid im Schwarm anderer knapp gekleideter, halbseidener Damen, wird von einem Zuhälter wie Ware mit Maßband gemessen, verliebt sich in einen jungen Fernando, aber ihre zielorientierte Schwester zerschlägt die Verbindung der Hände. Endet müde, den Blick zu Boden gerichtet, wie ihr ehemaliger Sonnenscheinwerfer.

 

„Wir alle sind frei geboren“, singt Anna I Brechts Text zu einem Marschrhythmus, wie zum Hohn, als das Frauenvölkchen in engen schwarzen Röcken erscheint, die Arme an die Oberkörper geklemmt. Immerhin haken sie einander ein, doch nicht für die Revolution, sondern sie schwingen für eine freudlose Show die Beine hoch. Das alles ist bitter, furchtbar, eine moralisierende Leidensgeschichte, in die sich Stephanie Troyak, ein Wuppertaler Neuzugang von 2017, gekonnt hineinbegibt, mit allem Bausch-Schwanken in den Gesten, Blicken und Tänzen zwischen schwungvoller Aktivität und schlaffer Passivität. Doch so total, wie es einst Jo Ann Endicott tat und in ihrem ersten biographischen Buch beschreibt, verschmilzt die junge Amerikanerin nicht mit der Rolle, sie zieht auch die Zuschauer nicht derart stark mit in den Abstieg, die Unterwerfung, den Verlust der Brechtschen Todsünden, sprich Tugenden, wie „Stolz auf das Beste des Ichs“, „Zorn über die Gemeinheit“, „selbstlose Liebe“ oder „Neid auf die Glücklichen“. So sieht man einer kruden Geschichte Jahrgang 1933 zu – und dem Werk einer Choreographin, die ab hier ihre Arbeitsweise ändern und das Genre Tanztheater neu erfinden wird.

 

Song an Song

 

Denn das Thema sowohl der Unterhaltungstanzrevue als auch deren Collagen-Struktur, wie Pina Bausch sie im zweiten Teil des Abends, „Fürchtet euch nicht“, noch ausführlicher vorführt, wird dann zum Grundelement ihrer späteren Stückentwicklungen. Das Wuppertaler Sinfonieorchester unter der beherzten Leitung von Jan Michael Horstmann spielt weiterhin auf der hinteren Bühne, aus der Tiefe des Raumes heraus schmettern und säuseln die Musiker Songs aus der „Dreigroschenoper“, aus „Happy End“, dem „Berliner Requiem“, dem „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Die Gastschauspielerinnen singen mit wechselnden Stimmungen, korrekt, doch ohne Funken zu sprühen. Den Evergreen von der „next Whisky bar“ und dem „Moon of Alabama“ aber singen alle zwanzig Tänzer gemeinsam, wie eine beschickerte Reisegruppe, mit dem Blick zum Himmel, die Schuhe in den Händen, eng aneinander gedrängt. Die Tänzerin Ophelia Young singt und tanzt knackig mit Ellbogen, Knien und Fäusten „Das Lied von der harten Nuss“, ein kleines Highlight.

©TANZweb_Klaus Dilger

 

Ein großes Highlight schließlich ist die Szene mit den vier älteren Tänzerinnen, die sich auf Pelzmäntel und tote Füchse drapieren auf dem Asphalt, den das Straßenbühnenbild von Rolf Borzik darstellt. Nazareth Panadero, Jo Ann Endicott, Helena Pikon und Julie Anne Stanzak zeigen elegantes Bein und singen aus voller schräger Kehle aus dem „Eifersuchtsduett“ der „Dreigroschenoper“: „ich möchte auch mal was Schönes sehen, Du Dreckhaufen“. Richten die Köpfe zueinander, kreischen sich wie aufgebrachte Miezen an, „ha ha haaaa“, rücken weg und bellen zwischendurch „Lächerlich!“ Gelächter und großer Applaus. Diese Art Zickenwitz ist zwar auch nicht gerade frisch, aber hat hier seinen genialen Moment.

©TANZweb_Klaus Dilger

 

Frau an Frau

 

Während bei der Revue die Kostüme und Tänze wechseln, ebenso die Formationen von Kette zu Pulk zu Reihen, zieht sich eine kleine Geschichte durch dieses „Fürchtet euch nicht“: Ein Mädchen, verkörpert von der klein gewachsenen Ditta Miranda Jasjfi, will Frau werden. Erst schmiegt sie sich an einen kammergroßen Spiegel, dann träumt sie sich einen Tanzpartner, den sie, als imaginären Großen, im Wiegeschritt bei sich und danach neben sich liegen hat und am Kopf streichelt. Der Mann erscheint, als sie schläft, es ist Jürgen Hartmann, derjenige, der hinfort „Fürchtet euch nicht“ singt als ewig wiederholten Lockruf, ein falsches Versprechen: Er tanzt erst nett und zart mit dem Mädel und wird später immer grober. Sie läuft weg, sucht Schutz, doch die Leute, die sie trifft, heben gerade die Augen zum Himmel zum „Moon of Alabama“ hin.

 

Wer sich nicht fürchtet, schläft. Wer tanzt, wie diese seltsame stark geschminkte Truppe hier aus Männern und Frauen in Strapsen, Bustiers, schwarzen, knallbunten und mattfarbenen Kleidern, Röcken, federgesäumten Wallemänteln, der tanzt sich vielleicht die Furcht aus dem Leib, mit Armschwung, Beinwurf, wedelndem Unterschenkel oder nach vorn fallenden Tippelschritten. Macht sich blind. Aber wird gesehen. Das sind Gefühle, Fluchten und Fragen, die in den Stücken von Pina Bausch immer wiederkehren. Im Grunde sind sie nicht veraltet, sondern unentrinnbar, solange man lebt und solange Menschen auf Bühnen sich anderen zeigen. Deshalb ist dieser Tanzabend auch sehenswert, weil man erkennt, wie sie mit dem musikalisch-dichterischen Blick auf die Zwanzigerjahre Themen für ihre Gegenwart fand. Die „Todsünden“ haben tolle Momente, aber vielleicht doch nicht, aus praktisch-tänzerischen Gründen, sieben Leben.