HERAUSRAGENDES EREIGNIS: UNDERGROUND VII…!

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mit Internationalen Gästen bei UNDERGROUND VII

“…Obwohl sie thematisch vollkommen frei waren, schien sich auf faszinierende Weise ein roter Faden durch diesen, nicht nur spannenden und berührenden, sondern künstlerisch aussergewöhnlich hochwertigen Abend zu ziehen…”

Ausführliche Nach(t)besprechung*

I can’t be present due to traveling

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Oleg Stepanov befasst sich in seiner Arbeit „I can’t be present due to traveling“ auf sehr originelle Weise mit dem Thema der Leere und der Abwesenheit und letztlich mit dem Thema der Schöpfung.

Ein silberner, aus Rettungsfolien geschweisster, Riesenkubus erwartet im Glaspavillon „schweratmend“ die Zuschauer von UNDERGROUND VII, die teilweise keuchend den höchsten Punkt des Skulpturen-Parks Waldfrieden in Wuppertal erklommen haben.

Oleg Stepanov_I can't be present due to travelingUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Oleg Stepanov_I can’t be present due to travelingUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Ja, es scheint zu leben, dieses Etwas, das die Zuschauer die kommenden dreissig Minuten beständig nach seinem Wesen befragen wird, – denn ist nicht alles a priori Leben, das sich autark zu bewegen scheint? Und dieses Etwas will uns offensichtlich etwas wichtiges sagen, davon künden die beiden Mikrofone, deren Ständer dessen Dimensionen angepasst sind. Doch womit und in welcher Sprache, wird es mundlos reden? Knarzend wabert es zuerst auf das Eine zu, reibt sich an ihm, dann kracht es gegen das Zweite, stösst es um und begräbt es unter sich, verschlingt es, wie ein Schwarzes Loch, um kurz danach das Mikrofon samt einem leblos scheinenden Menschen auszuspeien, der diesem auf dem Boden gegenüberliegt.

Die Schöpfung des Silbernen Wesens beginnt sich zu bewegen, doch wird auch sie wortlos bleiben während den kommenden dreissig Minuten… auch wenn alsbald eine Stimme ertönt, eine verfremdete, technisch anmutende Frauenstimme,  die diesem Menschen in seinem grauledernen Overall, der an erste Bilder der russischen Raumfahrt erinnert, verliehen wird.

Oleg Stepanov_I can't be present due to travelingUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus Dilger

Oleg Stepanov_I can’t be present due to travelingUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus Dilger

Ungeheuer intelligent, präzise und mit grosser Präsenz, technisch vollkommen autark agierend,  entfaltet Stepanov seine faszinierende Soloperformance um Mensch, Universum, Leere und Schöpfertum. Immer wieder wird Stepanov von dem Silbernen Kubus, der Schwarzes Loch oder Gott ist, und hier wohl weiblich wäre, verschlungen und ausgeworfen bis er letztlich als Mischung aus Mensch und Hase wieder geboren wird. Nach langem Kampf mit der von ihm erzeugten Kreatur, ist das „Etwas“ nur noch silbern-goldene Hülle, in die sich Stepanov verbissen hat und mit der er, sie zwischen den Zähnen hinter sich herschleppend, zuletzt glitzernd und leuchtend in Nacht und Natur entschwindet. Das „Draussen“ sichtbar durch die grossen Glasfassaden, während im Inneren die Frauenstimme weiterredet, übersetzt von einem projizierten, Nikolaus-bärtigen, mittelalten Mann, der in Zeichensprache, in den Schatten eines Mikrofons „spricht“, das die Kreatur vor seinem Verschwinden noch als Hinterlassenschaft aufgestellt hatte…

Zurecht viel Applaus für diese hervorragende experimentelle, futuristisch anmutende Arbeit.

Oleg Stepanov_I can't be present due to travelingUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Oleg Stepanov_I can’t be present due to travelingUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

L’Exil des Manatees

Die Suche nach der Existenz – (…Letters are written, never meaning to send)

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Mit dem Thema der Leere und der Abwesenheit und letztlich mit dem Thema der Schöpfung, der Identität und des Seins befasst sich, auf autobiografische und doch allgemein gültige Weise, auch die zweite Arbeit dieses, das sei vorweggenommen, faszinierenden Abends.

Julie-Anne Stanzak taucht in „L’Exil des Manatees“, das sie gemeinsam mit der französischen Choreografin Nathalie Larquet entwickelt hat, ein in eine Vergangenheit, die vielleicht ihre eigene ist, aber stets nur erahnbar bleibt und so auch niemals in Gefahr gerät, anekdotisch „erzählt“ zu werden. Larquet zeichnet auch verantwortlich für die sensiblen und äusserst poetischen Videoprojektionen, die zu Teilen zuvor bereits in der installativen Ausstellung zu UNDERGROUND VII am gleichen Ort zu sehen waren.

Julie Anne Stanzak und Nathalie Larquet_L'Exil des ManateesUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Julie Anne Stanzak und Nathalie Larquet_L’Exil des ManateesUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Halbnackt, in einen riesigen Fellmantel gekleidet, ragt Stanzak schamaninnenhaft wie dessen Verlängerung aus dem Baumstumpfes heraus, auf dem sie vor der projizierten Kulisse einer Betonwand mehr thront als  sitzt. All dies im Halbdunkel nur schemenhaft erkennbar. Aus der Projektion führt eine Wendeltreppe nach Oben in ein schwarzes Nichts, aus dem, für wenige Sekunden nur, eines der letzten Manatees ins Bild schwimmt, um sofort im Nichts wieder zu verschwinden, so als wolle es die Zuschauer für die Rarität und Vergänglichkeit der Augenblicke sensibilisieren.

Immer wieder schiessen Stanzaks Arme, mit stärker werdenden Impulsen, in einem fragmentierten Bewegungskanon aus dem Pelz heraus und katapultieren sie letztlich auf die Beine und in einen zögerlichen Gang, direkt auf das Publikum zu, in eine, ihre Vergangenheit, bis sie schliesslich das schützende Fell am Ende dieses Weges abstreift und es zu Boden fallen lässt.

Für ungeheuer starke, enorm facettenreiche zwanzig Minuten, in denen das Choreographen-Duo die Tänzerin Julie-Anne Stanzak in einem, zwischen Poesie und Wortgewalt (Text „sweet licorice“ von Julie-Anne Stanzak) fliessend changierenden Bilderfeuerwerk vollkommen neu entdecken und alterslos erscheinen lässt, wird es dort liegen bleiben. Erst zum Schluss, am Ende einer Zeitreise in die eigene Vergangenheit, wieder sie ihn wieder aufnehmen und zum Ursprungsort zurückkehren. Doch diese Erkenntnis der Neuentdeckung wird sich erst lange nach dieser so authentisch entwickelten Performance dechiffrieren und manifestieren. Auch die zahllosen starken Bilder aus Tanz, Text und Projektion, ebenso wie die Klänge, die Johann Kirschniok erst ganz zum Ende dieser Performance (wow!), in einer wundervollen Improvisation zu Johann Sebastian Bach in Raum und Körper fliessen lässt,  und dabei eine traumhafte Verbindung zu Oriah Mountain Dreamer’s „The Dance“ eingeht,  deren Lyrik von Stanzak bearbeitet und im Off der projizierten Bilder gesprochenen wurde. All diese Assoziationsräume  werden noch lange nachhallen . 

Ein Stück, das nicht nur im Kopf haften bleibt und das zu Recht mit viel Applaus bedacht wurde.

Julie Anne Stanzak und Nathalie Larquet_L'Exil des ManateesUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Julie Anne Stanzak und Nathalie Larquet_L’Exil des ManateesUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Two die for….(kein Krimi)

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Der im Vorfeld wohl nicht abgesprochene „rote Faden“, das Thema der Leere und der Abwesenheit und letztlich der schöpferischen Neufindung, durchdringt auch die ungeheuer präzise und feinfühlige Arbeit, mit der Nazareth Panadero und Michael Strecker überraschten und überwältigten.

Schon die wundervolle Eingangssequenz, in der Michael Strecker, im halbdunkel nur schemenhaft erkennbar, einen schweren Armstuhl, samt quälendem Geräusch, kreisend hinter sich her schleppt, bis dieses Kreisen soviel Fahrt aufgenommen hat, dass der Stuhl sachte vom Boden abhebt und sich das Schleppgeräusch absolut synchron in sanfte Musik verwandelt, bringt diesen hochsensiblen, unglaublich facettenreichen künstlerischen Beitrag auf den Punkt.

Nazareth Panadero und Michael Strecker_Two Die ForUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Nazareth Panadero und Michael Strecker_Two Die ForUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Panadero wird sich in Folge auf diesen Armstuhl setzen, immer wieder, um ein jedes Mal den Platz wieder frei zu geben, ehe Michael Strecker ihr die, in gleichbleibend langsamem Tempo herbeigetragenen, Filzdecken wärmend umlegen kann. So stapeln sich die Filzdecken allmählich auf der Rückenlehne zu einer sitzenden Skulptur, die an Joseph Beuys erinnert, die Strecker später mit einem weissen Klebeband fixieren und forttragen wird, so wie wesentlich später Panadero in ihrem schwarzen Lackmantel.

Ungeheuer intelligent und auch humorvoll spielen die beiden Künstler mit ihren eigenen Klischees und mit den Assoziationsräumen, die sie immer wieder eröffnen, dabei agieren sie stets mit der eingangs beschriebenen überwältigenden Präzision auch in den dramaturgischen Abläufen und Einfällen, die in Vielem auf die vor zehn Jahren verstorbene Pina Bausch verweist – natürlich – aber als Nazareth Panadero Michael Strecker fragt: „was hast Du am 30. Juni 2009 gemacht“ (dem Todestag der Choreografin), da antwortet Strecker, indem er beginnt zu tanzen….

Und was er tanzt, ist Michael Strecker, und als Nazareth Panadero in diesen Tanz einstimmt, dann tanzt sie Nazareth Panadero. Zwei wirklich schöne Tänzer, die an diesem Abend so jung wirkten, wie schon sehr lange nicht mehr.

Und es schien, als konnten Michael Strecker und Nazareth Panadero, die in diesem Stück ihre grünen Schuhe aus „Café Müller“ trug, endlich durch die legendäre Drehtür dieses Signatur-Stücks „Café Müller“ der grossen prägenden Choreografin in die Freiheit treten.

Riesenapplaus für diese Leistung.

Nazareth Panadero und Michael Strecker_Two Die ForUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Nazareth Panadero und Michael Strecker_Two Die ForUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

My Body Remembers

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Den Abschluss von UNDERGROUND VII bildete die gemeinsame Arbeit von Ruth Amarante mit der in Israel geborenen Künstlerin, Filmemacherin und Fotografin Lee Yanor, die vielen Anhängern der grossen Wuppertaler Choreografin durch die Realisation eines aussergewöhnlichen filmischen Portraits über Pina Bausch bekannt sein dürfte, das im Jahr 2006 entstanden ist.

Die Videoinstallation, die den Rahmen für Amarantes Solo mit dem Titel „My Body Remembers“ bildete, war ebenfalls bereits in der installativen Ausstellung an zwei vorausgegangenen Wochenenden im Skulpturen-Park Waldfrieden zu sehen, allerdings in einem wesentlich kleineren, intimeren Format dreier Tablet-Monitore.

Ruth Amarante&Lee Yanor_My Body RemembersUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Ruth Amarante&Lee Yanor_My Body RemembersUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Entstanden ist sie im Jahre 2019 und wurde gefilmt in den Ruinen des „Eden“, dem ersten Kino in Tel Aviv. Dort begaben sich die Künstlerinnen auf eine Spurensuche, die das Echo auslotete, die Erinnerungen in verlassenen Orten auszulösen vermögen, seien diese organisch oder architektonisch, wenn mit ihnen eine Relevanz verbunden ist, die eine entsprechende Resonanz zu erzeugen vermag. Lee Yanors Bilder sind Licht, Bewegung, Tanz, sie bilden nicht ab, sie halten nicht fest, auch nicht und erst recht nicht, wenn sie dem Tanz Amarantes eine neue räumliche Freiheit und zusätzliche Dimension verleihen.

Die beiden Künstlerinnen haben sich entschlossen, bei der Aufführung diese Ebenen nicht zu vermischen, vielleicht aus der Befürchtung heraus, das Eine könnte des Anderen Hintergrund werden, oder die Ebenen könnten einander nicht durchdringen, ist doch das filmische Werk, das auf den Austausch und die Bewegung zwischen den drei Leinwänden angelegt ist, bereits ein in sich geschlossenes Werk.

So war Ruth Amarantes, nur ganz minimalistisch beleuchteter Tanz, etwas Beschwörendes, Rituelles, Schamanenhaftes, das den geistigen Raum öffnete, sich in diese Installation hinein fallen zu lassen. Loszulassen.

Amarante ist eine wundervolle, fast jugendlich erscheinende Tänzerin, die man gerne viel häufiger auf der Bühne sehen möchte, nicht nur in den Stücken von Pina Bausch. Auch sie hat hier gezeigt, wie alle Kolleginnen und Kollegen in diesem erinnerungswürdigen Abend zuvor: sie sind ganz herausragende, eigenständige und hochkreative Künstler- und Tänzerpersönlichkeiten!

Ruth Amarante&Lee Yanor_My Body RemembersUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Ruth Amarante&Lee Yanor_My Body RemembersUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Freiräume und neue Wege

Wir hatten es bereits in unserer kurzen Nachtkritik deutlich gemacht: Bettina Wagner-Bergelt, die Intendantin und Künstlerische Leiterin des Tanztheater Wuppertal, schuf mit ihrem Technik- und Organisationsteam die Freiräume, derer es bedarf um mit Kreativität aus dem Körper heraus so zu forschen, dass hieraus etwas entsteht, dessen es sich zu erinnern lohnt, – Kunst.

Ganz explizit wurde dabei ein Weg beschritten, der Hoffnung macht auf die wohl einzigartigen Möglichkeiten des geplanten und auf seine Umsetzung wartenden Pina Bausch Zentrums: neben der choreographischen Zusammenarbeit der Ensemble-Mitglieder untereinander, die enge künstlerische und individuelle Zusammenarbeit zwischen Tänzerinnen und Tänzern des Ensembles mit internationalen, frei arbeitenden Künstlern. 

Herausragend auch die Idee, den Aufführungen eine installative Ausstellung voranzustellen, die die Vielschichtigkeit des künstlerischen Schaffens aller Beteiligten auf höchstem Niveau zu unterstreichen vermochte. Im Skulpturen Park Tony Craggs stand hierfür ein wunderbarer Ort zur Verfügung, an dem Kunst und Natur eine grossartige Symbiose eingehen dürfen. Zwei restlos ausverkaufte Vorstellungen belehrten Skeptiker eines Besseren, die im Zweifel waren, ob das Publikum bei Wind und Wetter diesen Aufstieg zum Glaspavillon goutieren würde. Im Gegenteil: ganz selten war ein Publikum je so bei sich selbst angekommen, wie nach diesem Fussweg durch Kunst und Natur.

Die siebte Ausgabe der UNDERGROUND-Reihe, mit den hier besprochenen Künstlerinnen und Künstlern, war eine ganz Herausragende! Kaum vorstellbar, dass dies die beiden einzigen Vorstellungen gewesen sein könnten.

Nazareth Panadero und Michael Strecker_Two Die ForUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

Nazareth Panadero und Michael Strecker_Two Die ForUNDERGROUND-VII@TANZweb_Klaus-Dilger

*(Hinweis)

Auch wenn guter Tanzjournalismus immer geprägt sein sollte von hoher Sachkompetenz, also dem Wissen um Tanz und Choreographie, gepaart mit einer weitgefächerten, internationalen Seherfahrung und dem Erleben vieler Tanzereignisse im nationalen und internationalen Vergleich, so bleibt die Kritik, oder besser das Feedback, zu der besprochenen Aufführung immer ein Stück weit subjektiv. Das ist auch gut so, wenn sie transparent wird.

Zu dieser Transparenz gehört auch, dass hier offengelegt wird, dass wir in diesem Fall die aussergewöhnliche Gelegenheit hatten, den Prozess bis zur Aufführung von UNDERGROUND VII über mehrere Tage hinweg von Innen heraus miterleben zu dürfen.

Julie Anne Stanzak und Nathalie Larquet_L'Exil des ManateesUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer

Julie Anne Stanzak und Nathalie Larquet_L’Exil des ManateesUNDERGROUND-VII@TANZweb_Barbara-Schroer