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Kollektive Ekstase, individuelle Trauer
„Café Müller / Das Frühlingsopfer“
vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

Eine Nachtkritik von Nicole Strecker

 

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Es wird immer das Stück bleiben, in dem sie am meisten fehlt und zugleich: am stärksten spürbar ist. Das 1978 entstandene „Café Müller“, in dem Pina Bausch noch im Jahr vor ihrem Tod selbst mittanzte. Seit jeher wird es im „Doppelpack“ mit ihrem drei Jahre früher uraufgeführten „Frühlingsopfer“ gezeigt. Intim-individuelles Tanztheater und kollektiv-ekstatischer Ritualtanz. Bei der aktuellen Wiederaufnahme schien sich im „Café Müller“ ein weichzeichnender Schleier über die Trauernden und Liebenden gelegt zu haben. Schön – und entrückt. Das archaische Ensemblestück hingegen hat nichts von seiner brutalen Kraft verloren. So gab es – wie immer – standing ovations in der – wie immer – ausverkauften Oper.

Wuppertal international. Die Garderobiere wechselt für ihre Kundschaft immer wieder ins Englische. Der linke Sitznachbar mit Politiker-Potenz-Gebahren murmelt italienisch. In der Schlange vor der Toilettentür schnattern extravagant gekleidete Spanierinnen. Tänzer des „Royal Ballets of Flanders“ tauschen sich in der Pause unüberhörbar über ihren „favourite character of the piece“ aus und wer weiß, welche Prominenz sich noch im enggebauten 700-Sitze-Opernhaus im so gar nicht pittoresken Stadtteil Barmen tummelt. Die Welt spricht über Pina Bausch, über zwei gut 40 Jahre alte Stücke, die einfach zum „must-have-seen“ im Theater-Repertoire gehören.

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Der Zuschauersaal hüstelt sich noch zurecht, das Theater liegt im Dämmer, da öffnet sich auf der Bühne eine Glastür. Eine Frau huscht herein, ihr weißes Hemdchen leuchtet in der Dunkelheit. Eine Schlafwandlerin? Ein Spuk? Kein Spuk. Ihr Körper rumpelt hörbar gegen einen der vielen herumstehenden Stühle und Tische. Viele Jahre lang war das Pina Bausch, die Solinger Gastwirttochter, die sich nachts in ihr „Café Müller“ schlich, die bloßen Arme ausgestreckt, somnambul und sehnsuchtsvoll. Das weiße Trägerkleidchen schlottert nachlässig am dünnen Körper, offenbart den Brustansatz, feminine Verletzlichkeit. Für die anderen Personen, die später auf die Bühne kommen, wird sie seltsam unsichtbar bleiben. Eine stille Beobachterin der Liebesexzesse der anderen, ihrer Verzweiflung, ihrer Lächerlichkeit.

Es lässt sich wohl nicht vermeiden, dass heute jede Wiederaufnahme dieses Signaturstücks von Pina Bausch zum Requiem wird. Todernst ist es ohnehin, mit seinen herzzerreissend traurigen Arien von Henry Purcell. Mit dem Paar, dass sich im selben Moment leidenschaftlich umarmt und fallenlässt, der einsam herumtippelnden Frau mit roter Dirnenperücke und dem mitfühlenden Helfer, der nichts gegen den abgründigen Seelenschmerz ausrichten kann – nur die aufbegehrenden Körper schützt er, indem er hastig Stühle aus dem Weg räumt, wenn die Trauernden durch den Raum rasen, sich gegen Wände werfen, zu Boden stürzen. Todernst – und doch wie ein fremder Traum. Denn auch wenn die heutigen Tänzer ihre Rollen makellos füllen, ihre Körper nicht schonen, das Leiden suchen, so wirkt der Szenerie doch, als gehörte die intime Tragik nicht ihnen. Ein „in Memoriam“, gezeigte, nicht durchlebte Pein – wenngleich ein immer noch sehr ästhetisch anzusehendes ‚Flashback‘, das Ehrfurcht vor der strengen choreografischen Komposition gebietet, wo es Empathie nicht mehr erzwingt.

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Ergreifend war an diesem Abend also nicht wie erwartet die eigentlich zeitlos gültige Liebesklage, sondern das thematisch so ferne Ritual. Eine archaische Gesellschaft, deren Götterglaube ein weibliches „Frühlingsopfer“ gebietet. Frauen, die die durchgedrückten Arme im Schwung gegen ihren Körper führen als wollten sie ihren Schoß spalten. Die sich ein rotes Kleid greifen, zugleich ängstlich und gierig das Leidensprivileg zu erfahren: die Auserwählte zu sein, die Todgeweihte. Ein männliches Medium, der auf dem torfbedeckten Bühnenboden liegend schließlich die Botschaft empfängt, welche Jungfrau sich am Ende zu Tode tanzen darf. Welche Tänzerin sich wieder und wieder den eigenen Ellbogen wie ein Messer in den Unterleib rammen und auf der Erde wälzen muss, ihrem Grab. Schweiß, Schmutz und Schmerz. Eine Gemeinschaft wie sie zittert, rast und mordet. Und ein bisschen darf man – „heidnisches Russland“ hin oder her – doch ans Heute denken. An die düstere Euphorie der Hysteriegesellschaft für Katastrophen, Hatz und Angst, die Suche nach Sündenböcken, die Lust an der, ach ja: ‚postfaktischen‘ Irrationalität.

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Mit ihrer Strawinsky-Interpretation – nach der von Maurice Béjart die zweite, die wirklich die Brutalität der Komposition erfasste – hatte Pina Bausch 1975 ein letztes Mal bewiesen, dass sie auch eine große Choreografin war, ehe sie sich danach endgültig der puren Körper-Poesie ihres Tanztheater verschrieb. Heute wird es fast ausschließlich von den „Neuen“ getanzt, den jungen Tänzern des Ensembles, und das tun sie mit Wucht – als gelte es ihre Chance zu nutzen, sich zwischen dem Studium der eher expressiv als tänzerisch herausfordernden Tanztheater-Rollen endlich mal auszutoben. Sie versetzten die Wuppertaler Oper in Aufruhr. Lustvoller Thrill bis endlich das Menschenopfer gefunden ist, orgiastische Körper-Cluster, quälende Erregung bis zur grausamen Ekstase. Und der Beweis: Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ ist nach wie vor das ultimative choreografische Pendant zum musikalischen Fanal – unersetzlich im Tanzkanon.

Folgetermine am 24., 25., 26. Februar 2017 im Opernhaus Wuppertal

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