Ein Kommentar vorab:

von Klaus Dilger

Wie schlecht es um den Qualitätsjournalismus im Tanz bestellt ist, lässt sich an dem „Meinungsbild“ diverser und teilweise sogar prominenter Medien (wie z.B. sogar ARD und Deutschlandfunk) zur fristlosen Entlassung der Intendantin und künstlerischen Leiterin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch trefflich ablesen. Dieses erscheint überwiegend wie ein „Stochern im Nebel“. Dabei fällt auf: je weiter geographisch entfernt sich die „Stocherer“ befinden, desto länger und gröber offensichtlich die Stange zum Stochern und umso eklatanter das Danebenliegen und die verursachten Kollateralschäden. Doch es ist Sommer und da glauben wohl manche Medien, das bekannte „Loch“ legitimiere diese Fahrlässigkeit im Umgang mit den Fakten. Da wird der pensionierte Tanzhausleiter Bertram Müller vor das Mikrofon gezerrt und weil er im Vorstand des Dachverbandes Tanz Deutschland ist, wird daraus „der Verband wirft der Stadt Wuppertal totales Versagen vor“, da werden offensichtliche Sachverhalte in der textlichen Anmoderation bewusst oder unbewusst verdreht, da werden Ross und Reiter schon mal gern vertauscht, Hauptsache, es bestätigt scheinbar die eigene, frei gebildete Meinung.

Zufälliger Weise war gestern in den Sozialen Medien ein sehr trefflicher Post zu lesen, den der bekannte Regisseur und Autor Falk Richter zum Thema Journalismus eingestellt hatte. Darin hieß es, frei aus dem Englischen übersetzt,  „Regel 101 des Journalismusgesetzes“: wenn Einer behauptet, es regnet und ein Anderer, es sei trocken, dann ist es nicht Deine Aufgabe, sich daraus eine Meinung zu bilden und diese kund zu tun, sondern aus dem Fenster zu sehen und die Wahrheit zu überprüfen.

Diese einfache Wahrheit in einem, zugegebener Maßen wahrlich nicht einfachen Kontext, wurde grob fahrlässig missachtet und es wurden zuvorderst sämtliche Tänzerinnen und Tänzer des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, das gesamte künstlerische Team des Tanztheaters, die bis dato künstlerische Leiterin und Intendantin Adolphe Binder, der Geschäftsführer Dirk Hesse und sämtliche handelnden Personen in dieser Causa, verletzt, beschädigt und vielleicht sogar ruiniert.

Dies ist schändlich und verwerflich und wirft fast zwangsläufig die Frage auf: wieviel ist das Urteil derer Wert, die so gehandelt haben, wenn sie über die Premieren der Tanzkunst berichten und urteilen? Woher nehmen sie ihre Legitimation und wieviel oder wie wenig wissen sie tatsächlich über Tanz?

Defizite im Wissen mögen verzeihlich sein, Defizite in der Integrität dagegen nicht.

Die sieben Todsünden – Tanzabend von Pina Bausch

Unsere Redaktion traf sich mit dem Kulturdezernenten der Stadt Wuppertal, Matthias Nocke, um ihn zur fristlosen Entlassung von Frau Adolphe Binder als Intendantin und künstlerische Leiterin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zu befragen:

Am 13.Juli beschloss der Beirat der Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH die fristlose Entlassung seiner künstlerischen Leiterin und Intendantin Adolphe Binder. Wer gehört dem Beirat an und welche Vertreter haben an der finalen Sitzung teilgenommen? Wer war die Vertretung des Landes? Wie war das Abstimmungsergebnis, gab es Gegenstimmen oder Enthaltungen? (Es heisst, es hätte jemand gegen die Entlassung votiert)

Matthias Nocke: Ich kann Ihnen natürlich nicht das Abstimmungsverhalten im Einzelnen benennen, da diese Beiratssitzung keine öffentliche Sitzung war. Die Mitglieder des Beirats sind die Vertreterinnen und Vertreter der Fraktionen im Gemeinderat, Frau Bürgermeisterin Ursula Schulz, sie leitet den Beirat, Herr Heiner Fragemann, Herr Dr. Rolf-Jürgen Köster, stellvertetender Leiter des Beirats, Herr Peter Vorsteher,    sowie der Herr Oberbürgermeister Andreas Mucke und der Stadtdirektor Herr Slawig, für das Land Nordrhein-Westfalen Frau Bettina Milz, Referatsleiterin für Tanz und Theater       und für die Pina Bausch Foundation Frau Madeline Ritter, die telefonisch zugeschaltet war, sowie als Gast Salomon Bausch, sowie ich als Wahlbeamter, in diesem Fall auf „Fraktionsticket“, vorgeschlagen von der CDU.

Es hat eine Neinstimme gegeben. Der Rest der Mitglieder hat sich entschieden, diesen bedauerlichen Schritt zu vollziehen der niemanden froh gemacht hat, und die Erklärung zu verabschieden, die hinterher veröffentlicht wurde.

Bei dieser Zusammensetzung des Beirats müssen die Argumente offensichtlich sehr überzeugend gewesen sein?

Matthias Nocke: Die Argumentation ist das Eine, das war schon sehr handfest, das Zweite ist, dass es natürlich schon eine bestimmte Strecke der Entwicklung gegeben hat und es ist nicht herbeigeredet oder eine intellektuelle Behäbigkeit, dass man etwas vorschiebt, es ist schon so, dass der Zustand der Zerrüttung ein Ausmaß angenommen hat, das eine weitere Zusammenarbeit unmöglich gemacht hat.

In ihrem offenen Brief behauptet Frau Binder, dass sie sich seit 2016 um eine Änderung in der Regelung der Entscheidungskompetenzen bemüht, also war Frau Binder bei ihrer Vertragsunterzeichnung klar, dass sie Herrn Hesse unterstellt ist und dass Herr Hesse in allen Fällen mit der finalen Entscheidungsbefugnis ausgestattet ist. Dennoch hat sie unterschrieben. Weshalb plötzlich der Sinneswandel und weshalb wurde auf diesen Wunsch nicht eingegangen?

Matthias Nocke: Um es klar zu sagen: Frau Binder konnte als Intendantin und künstlerische Leiterin des Tanztheaters autonom über jede künstlerische Frage entscheiden. – Allein, man muss auch entscheiden. Man muss Entscheidungen treffen und Dinge fertig machen, – so würde ich das formulieren wollen. Und das war auch nicht der Kern des Konflikts. Es mag jetzt, und das ist auch einfach und ich gebe zu das gefällt auch, der Eindruck erweckt werden, das wäre ein Machtkampf zwischen zwei Protagonisten gewesen, – vielleicht war es das irgendwann auch – aber es handelt sich hier nicht um ein Zweipersonenstück, sondern tatsächlich um einen Konflikt, der alle Departements der Compagnie durchzieht, und nicht um einen Konflikt zwischen Kunst und Kommerz. Es ist auch nie um Geld gegangen und es handelt sich auch nicht um einen Konflikt zwischen Traditionalisten, die sich in besonderer Weise dem Werk von Pina Bausch verpflichtet fühlen auf der einen Seite und Modernisierern, die Neuinszenierungen in den Vordergrund stellen wollen auf der anderen Seite. Das ist alles nicht der Fall, sondern es ist in der Tat ein sehr komplexer und vielschichtiger Konflikt, der überwiegend psychologischer Natur ist und der vor Allem etwas mit Kommunikation zu tun hat.

Es wird in den Medien und auch von Frau Binder immer wieder so dargestellt, als handle es sich bei der Entscheidungsstruktur des Tanztheaters um ein verrücktes Konstrukt, das künstlerisches Arbeiten gar nicht möglich mache. Wurde Frau Binder jemals in Aussicht gestellt, dass hier ein neues Konstrukt ausgearbeitet werde, das ihr eine finale Entscheidungsbefugnis in künstlerischen Fragen zusichert?

Matthias Nocke: Es ist keineswegs ein verrücktes Konstrukt. Man kann selbstverständlich (untersuchen) – und der Beirat hat in dieser Sitzung ja auch beschlossen, dass wir uns nochmals kritisch mit den Leitungsstrukturen beschäftigen – wo will man etwas verändern, wo kann man etwas optimieren, wo ist etwas richtig?  Vielleicht ist es sogar notwendig im künstlerischen Bereich die Lasten auf mehreren Schultern zu verteilen? Wir haben die Werkspflege, wir haben Besetzungsfragen, wir haben die Compagnie, die auch von einer demographischen Entwicklung betroffen ist und wo ja auch immer als positives Merkmal darauf hingewiesen wird, dass es eine Dreigenerationen-Compagnie ist. Es geht um die Verbindung zur Pina Bausch Foundation, da geht es um eine enge Form der Zusammenarbeit, um die Organisation von Wissenstransfer, einen wirklich komplizierten Transformationsprozess – in Teilen jedenfalls – Es geht um sehr viele Fragestellungen und das werden wir auch tun. Es wird keine Schnellschüsse geben. – Es ist jedenfalls keine verrückte Konstruktion. Wenn wir die Wuppertaler Bühnen und  Symphonie GmbH nehmen, die sich im Wesentlichen lokal bewegt als Stadttheater, auch da gibt es einen verantwortlichen Geschäftsführer und die Anstellungsverträge mit den Intendanten oder der Generalmusikdirektorin; sie werden mit der GmbH gemacht und deren Geschäftsführer. Das heisst nicht, dass der Geschäftsführer keinen Aufsichtsrat hat, usw. aber man kann nicht behaupten, dass sich solche Konstruktionen nicht bewährt hätten. Es wird sogar vielfach so empfunden, insbesondere wenn die handelnden Personen im Kollegialorgan der Theaterleitung alle Fragen gemeinsam entscheiden, als ein rundum Sorglospaket für die künstlerischen Geschäftsführer, die sich ganz auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren und mit den Budgets die sie bekommen arbeiten können.

Ist es richtig, dass Frau Binder bereits seit geraumer Zeit einen Spielplan für die kommende Spielzeit vorgelegt hat, dieser aber von Herrn Hesse abgelehnt wurde? Wenn ja, mit welcher konkreten Begründung?

Matthias Nocke: Es handelt sich hierbei lediglich um einen Spielplanentwurf und Frau Binder ist auch mehrfach aufgefordert worden, dreimal um präzise zu sein, diesen zu vervollkommnen und einen mit allen Departements der Compagnie abgestimmten Spielplan vorzulegen. Das ist zu meinem grossen Bedauern bisher noch nicht erfolgt

Die sieben Todsünden – Tanzabend von Pina Bausch

In der Pressekonferenz in 2016, als Frau Binder als neue Intendantin vorgestellt wurde, war davon die Rede, dass der Entschluss einstimmig getroffen wurde und Herr Hesse freute sich explizit hierüber. Nun ist immer wieder zu lesen, dass Herr Hesse Frau Binder von Anfang an nicht haben wollte. Was ist denn nun richtig?

Matthias Nocke: Ich bin erstaunt  über diese Legendenbildung, weil Dirk Hesse tatsächlich zu denjenigen gehört hat, die Adolphe Binder vorgeschlagen haben, der sehr glücklich darüber war, dass Adolphe Binder angeheuert hat, der sich Mühe gegeben hat. Und ich weiss noch wie wir in der Lichtburg gesessen haben und die Compagnie darauf vorbereitet haben, dass wir ihr die neue künstlerische Leitung vorstellen, dass sich die Tür geöffnet hat und Frau Adolphe Binder kam herein und wie wir sie alle mit herzlichen Applaus begrüsst haben. Das war ein schöner Start und ich hätte mich gefreut, wenn wir ihn so hätten fortsetzen können.

Es ist nicht richtig, dass das Interesse von Dirk Hesse zu irgend einem Zeitpunkt darauf gerichtet gewesen wäre, Adolphe Binder das Leben schwer zu machen oder sie auszubremsen. Es hat nur, so banal das klingt, eine Reihe von Entwicklungen gegeben, die allesamt etwas zu tun haben mit Kommunikation… wie im richtigen Leben.

Ist es richtig, dass Sie bereits seit Monaten versucht haben Frau Binder zur Auflösung ihres laufenden Vertrages zu bewegen und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt sollte der Vertrag aufgelöst werden?

Matthias Nocke: Also was den zeitlichen Rahmen betrifft, ich lasse das jetzt mal offen, ich habe das nicht so genau rekonstruiert ob seit einem Jahr oder einem dreiviertel Jahr, man hat man sich mit Konfliktsituationen, Krisengesprächen mit Vermittlungsgesprächen, mit Coaching, mit einer Art von Mediation, mit ganz unterschiedlichen Ansätzen beschäftigt. Auch mit der Hinzuziehung zusätzlicher Personalstärken, um das Eine oder Andere zu kompensieren. Es sind eine ganze Menge Dinge ausprobiert worden, die leider nicht zum Erfolg geführt haben.

Irgendwann, das bin nicht ich, sondern mein Kollege Dr. Slawig, ist auch ein solches Gespräch geführt worden, ob es nach dem derzeitigen Stand der Dinge nicht besser wäre, im beiderseitigen Interesse, einen Aufhebungsvertrag zu schliessen. Das war aber noch nicht vor einem dreiviertel Jahr. Und auf dieses Ansinnen ist auch nie geantwortet worden. Und es ist dann erneut versucht worden, und die Bemühungen sind dann unregelmäßig erfolgt, aber zuletzt noch am Vormittag der Beiratssitzung. Und sie sind dann aber auch von Frau Binder dahingehend beantwortet worden, dass sie dies nicht in Betracht zieht.

Waren denn die Beteiligten durch die Veröffentlichung in manchen Medien nicht bereits zu sehr beschädigt, als das es hätte noch eine einvernehmliche Lösung geben können?

Matthias Nocke: Also zunächst muss man sagen, dass diese Durchstecherei und die Instrumentalisierung von Medien, von Personen alle beschädigt hat, natürlich auch gerade Frau Binder, aber auch Herrn Hesse und alle handelnden Personen, aber auch und das ist das Wichtigste, die Compagnie. In diesem Zusammenhang kann man diese Frage stellen, aber ich muss sagen, es ist nie zu spät für Schadensbegrenzung und wenn diese Sache hätte mit einem blauen Auge beendet werden können – auch arbeitsgerichtliche Verfahren haben so etwas wie Gütetermine –  es ist nie zu spät. Aber ich glaube es ist auch klar, dass man ein zerbrochenes Ei nicht mehr wird zusammensetzen können und man wird auch keinen Schönheitspreis mehr gewinnen können, aber dass man versucht sich zu einigen, was ja zunächst einmal die Einsicht hat, dass man das in dieser Art nicht zu Ende bringen kann, insbesondere dann, wenn einem das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch so wichtig ist, dann wäre das glaube ich für alle handelnden Personen von Vorteil.

Wurde die Möglichkeit diskutiert Frau Binder zu behalten und sich von Herrn Hesse zu trennen?

Matthias Nocke: Wenn man Entscheidungen vorbereitet und unterschiedliche Szenarien durchspielt, analysiert man ja die Situation. Und auf Grund einer übereinstimmenden Situationsanalyse ist diese Option in dieser Form nie in Betracht gezogen worden, zumindest nicht nach meinem Kenntnisstand.

Wurden im Beirat auch die möglicher Weise katastrophalen Konsequenzen diskutiert, die eine fristlose Entlassung von Frau Binder nach sich ziehen könnten:: u.A. ein möglicher Weggang einer nicht unbedeutenden Zahl von Tänzern, ein dermaßen großer Vertrauensverlust in der gesamten Tanzszene, dass eine Intendant*innen-Nachfolge nahezu unmöglich oder zumindest noch schwieriger wird, bis hin zu möglichen Auswirkungen für die Planungen des Pina Bausch Zentrums und dessen Scheitern?

Matthias Nocke: Letzteres zuallererst. Und auch alle weiteren negativen Konsequenzen sind analysiert worden, sind diskutiert worden und zwar schon seit geraumer Zeit. Der Punkt ist schlicht, dass, nicht nur nach meiner Meinung, die Existenz der Compagnie, so wie wir sie heute kennen, auf dem Spiel stand und die Implosion der Compagnie der grösste anzunehmende Unfall gewesen wäre. Alle anderen Unfälle nehmen wir sehr ernst; es ist Zweifelsohne eine mittlere Katastrophe für den Ruf des Tanztheaters – wie auch bei allen anderen Personalwechseln, die sich in dieser Art und Weise vollziehen, unschön und auch Risse verursachend. Wir haben natürlich diskutiert: Vertrauensverlust bei den Gastspielpartnern, bei der Landesregierung, bei der Bundesregierung, und wir haben nach Abwägung aller Gesichtspunkte diese Entscheidung getroffen.

Wie bedeutend war der Rückhalt der Tänzerinnen und Tänzer für Frau Binder vor der Entscheidung tatsächlich? (anders als in manchen Medien interpretiert, verwahren sich die unterzeichnenden 35 Tänzer*innen in ihrem Brief vom 9.Juli lediglich dagegen, in der Auseinandersetzung instrumentalisiert zu werden)

Matthias Nocke: Ich teile Ihre Auffassung was dieses Schreiben angeht, das mir ja auch vorliegt. Es ist eine freie Interpretation. Es ist vielmehr so, dass auch bei dem Gespräch mit dem Ensemble, das ich in Paris hatte, eigentlich Enttäuschung, Besorgnis, ein Stück weit auch Trauer artikuliert wurde über die Form der Auseinandersetzung. Die Tänzerinnen und Tänzer haben zu Recht für sich selbst aber auch für das Tanztheater nach den Fürsorgepflichten ihres Arbeitgebers gerufen; nach Wertschätzung und Anerkennung ihrer Arbeit für jede und jeden Einzelnen. Sie waren bestürzt, ja, wie in der Tat Personen gezielt beschädigt werden sollten und haben daran viele Fragen geknüpft. Deshalb ist es auch nur folgerichtig, wenn sie klar Position bezogen haben, sie wollen sich nicht instrumentalisieren lassen, sie verwahren sich gegen diese Form der Auseinandersetzung und all das, was in diesem Brief zu Recht steht.

Dann hat es einen zweiten Brief gegeben in derselben Woche, unterschrieben von etwa einem Dutzend Tänzerinnen und Tänzern, die klar Position für Adolphe Binder bezogen haben. Und auch neben unterschiedlichen Meinungen aus allen Departements, die einen per Mailform erreicht haben, (die) sich hinter Frau Binder gestellt haben. Aber das muss man klar unterscheiden: die Compagnie als Compagnie hat nicht so reagiert, wie dies in Teilen der Medien dargestellt worden ist.

Pressebilder 1980 Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.010

Pressebilder 1980 Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.010

Ist es richtig, dass Fragen des Erfolgs und künstlerische Leistungen der Spielzeit von Frau Binder bei der Entscheidung keine Rolle gespielt haben?

Matthias Nocke: Ich weiss nicht ob man sagen kann, sie haben keine oder keine entscheidende Rolle gespielt. Das war eine überaus erfolgreiche Spielzeit mit 73 Aufführungen und Gastspielaufführungen, das waren die beiden neuen Stücke,  das waren künstlerische Prozesse, die in dieser Qualität und diesem Umfang für viele Tänzerinnen und Tänzer  neu waren, insbesondere für diejenigen, die schon länger keine Neuinszenierungen vorgenommen haben. Alles in allem wird man (von) dieser Spielzeit (sagen können), und Sie wissen, dass Spielzeiten bei uns in der Regel, das gilt natürlich nicht für die beiden neuen Stücke, zwei Jahre im Voraus konzipiert werden, (dass diese Spielzeit)  durchaus erfolgreich war und auch in New York mit einer   Nominierung zum Bessie Award ausgezeichnet wurde. Aber das alles ist eine Spielzeit und die Aufgaben einer Intendantin sind vielfältig und die sind auch nicht unklar, es gibt klare Vereinbarungen. Auch über Neuinszenierungen in der neuen Spielzeit, etc., und man wird feststellen dürfen, dass die Gesamtheit der Aufgaben und deren Erfüllung durch Frau Binder, und diejenigen Vorwürfe die da im Raum waren und behandelt wurden, im Vordergrund standen. Insbesondere die brennende Sorge, das Tanztheater vor weiterem Schaden und einer Implosion zu bewahren.

Würden Sie sagen, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung war, wie diese Spielzeit von Frau Binder angegangen wurde?

Matthias Nocke: Ich will das gar nicht vorwurfsvoll artikulieren, welcher Schritt in welcher Schrittfolge, das ist ja dann auch situativ zu bewerten. Die Fülle der Aufgaben ist sehr groß und auch die Fußstapfen sind sehr, sehr groß, die Fülle der Verantwortung nicht minder. Natürlich ist das was Frau Binder in dieser Spielzeit gemacht hat nicht alles falsch gewesen, das wäre ja vermessen das zu sagen, nein, im Gegenteil, in der Erklärung des Beirats ist das ja auch gewürdigt worden. Ihr Beitrag etwa bei der Auswahl der Choreographen der neuen Stücke. Der Punkt liegt nur darin, dass sich hierin die Aufgaben der Intendantin nicht erschöpfen. Und ich denke, es ist auch in Ordnung zu sagen, dass etwa die neue Spielzeit keine neuen Inszenierungen vorgesehen hat. Ich will das auch gar nicht bewerten, ich will nur sagen, dass der Spielplan keine neuen Inszenierungen vorgesehen hat.

Was versprechen Sie sich von einem neuen Findungsgremium, was Sie sich nicht bereits vom letzten Findungsgremium versprochen hätten? (dem Findungsgremium hatte Alistair Spalding ja bereits schon angehört und er war ebenfalls an der Stückauswahl 2015 beteiligt, die zu einem künstlerischen Fiasko für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch geworden sind)

Matthias Nocke: Ich möchte einem Missverständnis keinen Vorschub leisten: es ist keine Findungskommission. Diese sogenannte Expertenrunde, die sich sowohl aus Theaterleitern als auch Choreographen zusammensetzt, international, auch unter Beteiligung des Landes, und auch Peter Pabst, der sich freundlicher Weise bereit erklärt hat, erneut mitzuwirken, wird eine Reihe von Fragen in einem kritischen Reflexionsprozess (behandeln), es geht um ein Anforderungsprofil, es geht um sehr grundsätzliche Fragen,  die unsere Compagnie betreffen, aber es geht nicht zuvorderst um die Auswahl einer neuen künstlerischen Leitung, hier werden wir eine interimistische Lösung zunächst anstreben, es geht jetzt nicht darum, einen Schnellschuss zu machen und ein Kaninchen aus dem Hut zu ziehen, das würde auch gar nicht funktionieren, sondern hier ist jetzt schon eine kritische Reflexion angesagt, und man muss sich gleichermaßen über Strukturen und das künstlerische Profil Fragen stellen und sie auch beantworten.

Tanz Film Tanz Kritik Wuppertal

Die internationale Tanzszene, darin eingeschlossen bekannte Namen, manifestiert sich (spontan und auf Meldungen reagierend, die nicht wirklich recherchiert sind) recht eindeutig in den sozialen Medien und der überwiegende Teil der professionellen Medien ist in Aufruhr (mit eben jenen nicht wirklich recherchierten und hinterfragten Meldungen) ob der fristlosen Kündigung Frau Binders. Kommen da nicht Zweifel auf, ob diese Entscheidung so richtig und unumgänglich gewesen ist?

Matthias Nocke: Also ich kenne niemanden der an Entscheidungen mitgewirkt und noch nie gezweifelt hat. Wenn es Leute gibt die nicht zweifeln, dann taugen in der Regel auch die Entscheidungen nicht allzu viel. Es wäre jetzt wahrscheinlich kerniger zu sagen „Zweifel? Nie!“ aber das ist nicht meine Art und das ist auch nicht die Art aller entscheidenden Handlungsträger. Darauf lege ich Wert. Aber ich glaube unterm Strich, dass wir richtig gehandelt haben. Dass wir vielleicht sogar zu spät gehandelt haben.

Frau Binder hat angekündigt, dass sie gegen die fristlose Kündigung klagen wird. Sollte sie Recht bekommen, geht es dann nur um Abfindungen oder wäre die Fortsetzung der Intendanz von Frau Binder unter veränderten Vorzeichen denkbar?

Matthias Nocke: Letzteres scheidet aus. Frau Binder hat einen Vertrag bis 2022, ein Intendantenvertrag mit sehr vielen Rechten, die sonst ein normaler Arbeitnehmer nicht kennt und genießt, auch um die künstlerische Unabhängigkeit zu wahren, und wir werden uns dann in geeigneter Weise über eine Abgeltung von Ansprüchen im Vergleichsweg unterhalten.

Wie geht es jetzt unmittelbar weiter mit  der Compagnie?

Matthias Nocke: Die Compagnie ist jetzt im wohlverdienten Urlaub, der erste Arbeitstag ist der 21. August. Zu diesem Zeitpunkt wird auch ein Coach da sein, der sich bemühen soll, der Compagnie dabei behilflich zu sein, die ein oder andere Gruppenbildung zu überwinden. Gleichzeitig wird am 31.8. in der Volksbühne in Berlin das „Neue Stück II“ aufgeführt werden, und die künstlerische Leitung wird die hierfür vorgesehene Probenleitung haben.

Wird bei der Suche nach einer neuen Intendanz und künstlerischen Leitung auch die Leitung des Pina Bausch Zentrums mitgedacht werden?

Matthias Nocke: Es wäre schön, wenn wir jetzt in diese Phase eintreten könnten, aber es ist ja so, dass wir uns mit dem Durchführungsbeschluss, der jetzt folgen sollte, von dem ich auch unverändert hoffe, dass er jetzt im Herbst vom Rat der Stadt Wuppertal getroffen werden kann, der neben der Abbildung der Betriebskosten und der Frage der Beteiligung von Stadt, Land und Bund, die Frage nach einem Konzept für die Rechts- und Organisationsform, sprich das Betriebskonzept für das Pina Bausch Zentrum und die Rolle der einzelnen Säulen definiert.

Da wird uns dieser Arbeitsauftrag erst offiziell erteilt. Gibt es eine Intendanz? Welche Rolle haben die einzelnen Säulen zueinander, etwa die Pina Bausch Foundation und das internationale Produktionszentrum? Diese Fragen werden wir klären. Aber da es noch keine Gründungsintendanz gibt, wird sie folglich noch nicht angebunden sein können in die Auswahl der künstlerischen Leitung oder der Leitung, nennen wir das mal neutral so, des Tanztheaters.

Vielen Dank für das Gespräch Herr Nocke.

Kulturdezernent Matthias Nocke

Kulturdezernent Matthias Nocke