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PALERMO PALERMO
EIN MEISTERWERK VON PINA BAUSCH

Eine Nachtkritik von Klaus Dilger (zur Aufführung am 26.11.2016)

noch einmal anlässlich der Wiederaufnahme in 2019 – zu sehen vom 29. bis 31.März im Opernhaus Wuppertal

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Ohne Vorwarnung stürzt die Wand, die die gesamte Portal-Höhe und -Breite einnimmt, krachend und eine enorme Staubwolke erzeugend, nach hinten auf die Bühne. Der Staub wird sich auf die Schleimhäute der Zuschauer legen und ihnen am eigenen Leibe vermitteln, welch grossartiges Timing den Stücken von Pina Bausch zu Eigen ist, wie sich Durst und Trockenheit anfühlen, wenn dann auf der Bühne eine halbe Stunde später der entsprechende „Auslöser“ betätigt wird.

Die Trümmerteile der Mauer werden fortan den steinigen Untergrund für die Tänzerinnen und Tänzer bilden, die in den kommenden Stunden über dieses risikoreiche Terrain hinwegfegen werden, als wäre es die Via Vittorio Emanuele vor der Kathedrale von Palermo, deren Glockengeläut, es könnten auch andere Kirchenglocken gewesen sein, das Stück immer wieder in Aufruhr versetzen werden.

Es ist eines der Meisterwerke von Pina Bausch, dies sei hier vorweggenommen, das nun in Wuppertal im Rahmen von insgesamt drei der „Reisestücke“ des Wuppertaler Tanztheaters die innerhalb von nur drei Monaten gezeigt werden, wieder zu sehen ist. Im November feierte das Publikum „NEFÉS“, das in 2003 nach einem Aufenthalt der Compagnie in Istanbul entstanden ist, nun „PALERMO PALERMO“ aus dem Jahr 1989, ihr zweites ausserhalb Wuppertals entstandenes Stück, und im Januar wird es das 1986 in Rom entwickelte „VICTOR“ sein, ihr erstes „Reisestück“, das dann wohl für Begeisterung sorgen wird.

©Meyer_Originals

Ein Geschenk an das Publikum der „Schwebe-Bahn-Stadt“, das die Arbeiten Bausch’s nicht immer zu schätzen wusste, auch hieran erinnert die Choreographin, wenn sie Julie Shanahan, heute Emma Barrowman, die von Stück zu Stück eindrucksvoller agiert, nach dem Mauersturz von zweien ihrer Kollegen abwechselnd immer wieder mit Tomaten bewerfen oder umarmen lässt. Auch diese, ehemals schmerzlich trennende, Wand zu den Zuschauern, ist längst und nicht nur symbolisch eingestürzt.

Bausch und ihre Tänzer und natürlich auch der geniale Bühnenarchitekt Peter Pabst, entfachen in PALERMO PALERMO ein Feuerwerk an vielschichtigen Bildern und getanzten Tableaus, entstanden aus präziser Beobachtung der sizilianischen Spezies, liebenswert, skurril, paradoxal, zwischen Apfel balancierender Pavane und Sämann-Reihen, deren Saatgut aus Müll und Abfall besteht, zeichnen sie Portraits von Individuen, Familien und der „Famiglia“, Gesellschaften, die anderswo stets den Zusatz „parallel“ tragen würden und dort für „unsere Sache“ (Cosa Nostra) stehen. Andrey Berezin verwischt zeitliche und geografische Grenzen mit seinem grandiosen Spiel. Die Koffer zum Big Apple scheinen gepackt, das Haifisch-Becken in Form eines Films in den alten Röhren-Fernsehern seines kleinen Zuhauses am linken vorderen Bühneneck, steht für ihn selbst und Seinesgleichen, ein Kranz aus Zigaretten auf dem Kopf und er wird zur Freiheitsstatue vor den Toren von Manhattan, mehr braucht es dazu nicht. Das erinnert, den Fernsehgeräten zum Trotz, an das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als sich unzählige Europäer aufmachten, die meisten von ihnen aus Süditalien, in der Hoffnung, ihrer Armut und Not jenseits des Atlantiks zu entkommen. – In Palermo (Palermo) ist die Zeit stehen geblieben.

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Privates scheint es in dieser Welt nicht zu geben, alles findet in der Öffentlichkeit statt oder wird in diese hineingetragen: wenn Tsai-Chin Yu wie eine alte Frau von fünf Männern gestützt einem, vielleicht ihrem Mann entgegentritt, sich eine Flasche Wasser zwischen die Beine klemmt und den Verschluss langsam öffnet, während sie ihn mit den Augen und ihrer Körpersprache fixiert und sich das Wasser augenblicklich auf die staubige Bühne ergiesst, dann ist dies ein Bild, das sich für Jahrzehnte in das Gedächtnis einbrennt, Beatrice Libonati 1989 und Tsai-Chin Yu 2016 werden eins in ihrer Anklage, in ihrer Selbstentwürdigung, in ihrer Symbolik. Ganz anders als in NEFÉS, zwei Wochen zuvor an gleicher Stelle bei der Wiederaufnahme, als sich eine Vielzahl von Soli aneinander reihten, die sich und das Stück in die Länge zogen, häufig ohne einen erkennbaren Schlüssel für ein Ganzes zu vermitteln, befeuert hier jede einzelne Aktion eine Assoziationskette, die stets auf mehreren Ebenen zugleich, staunen, mitfühlen oder auch schmunzeln lässt, ob der Nonchalance mit der Bausch die skurrilsten Ideen und Beobachtungen in Szene setzt.

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Es sind Szenen von fulminanter bildlicher Kraft, etwa wenn Julie Anne Stanzak, nur in High Heels, Höschen und weisser Schürze gekleidet dem rauchenden Berezin in blauer Schlachterschürze, der sich zuvor seine Spiegeleier auf dem Bügeleisen gebrutzelt hatte, die Geschichte vom „verlassenen Mann“ vorliesst. Wenn plötzlich die Kirchenglocken wieder dröhnen und jemandem die Stunde schlägt, setzt hektisches Aufräumen ein, fünf Klaviere werden in die Szenerie geschoben, als sich aus dem Nichts ein bedrohlicher, eindrucksvoller Wolkenhorizont herabsenkt und fünf Pianisten mit dem Rücken zum Publikum beginnen, in das Geläut hinein die Eröffnung von Tschaikowskis Erstem Klavierkonzert in die Klaviatur zu hämmern, während Stanzak hierzu, nun ganz in leicht transparentem Schwarz, mit Trauerschleier verhüllt und scheinbar unsicherem Schritt die Bühne betritt. In der einen Hand einen Stuhl hinter sich herzieht, in der anderen ein frischgezapftes Bier hält, sich setzt, die schlanken Beine erotisierend übereinander schlägt und trinkt. Und es sind die Szenen von nicht minder fulminanter tänzerischer Kraft, die Bausch ihren Tänzern und Tänzerinnen gönnt, wie lange Jahre zuvor nicht mehr, gemessen am Premierendatum. Das Stück hat sich seither nur wenig verändert, wohl aber die Welt und die Wahrnehmung desselben. Auch wenn von den zweiundzwanzig Tänzer*innen der Uraufführung nur noch vier in der hier besprochenen Aufführung mitwirkend waren, so beweist die überragende Qualität der Darbietung doch das, was viele für unmöglich gehalten haben: das Stück lebt – und wie! Verluste sind keine auszumachen. Die Rollen wurden neu besetzt und grossartig ausgefüllt und interpretiert, besonders eindrucksvoll hier Azusa Seyama, um nur einen Namen zu nennen.

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Wie kaum eine Andere beherrscht Bausch die fliessenden Übergänge zwischen den einzelnen Szenen in ihren Stücken, hier beherrscht sie auch die gewollten Brüche, wenn sie immer wieder einen bestens geschulten und agierenden „Chor“ aus Bühnenarbeitern und -technikern auf die offene Bühne schickt und zu einem Teil der Aktion werden lässt – sei es zu Beginn, um dem Chaos der Destruktion Form zu geben, oder zum fast kitschig schönen Ende, als diese aus dem Bühnenhimmel blühende Kirschbäume herablassen, um sie für etwas Neues zu vertäuen, dem die Zuschauer nicht mehr gewahr werden dürfen, während Daphnis Kokkinos die Fabel der Gänse erzählt, die nur deshalb nicht vom wartenden Fuchs gefressen werden und deren Geschichte nicht bis zu Ende erzählt werden kann, weil sie immer weiter und weiter beten … und die Gänse, sie beten immer noch.

©Klaus Dilger

Probenleitung – Ruth Amarante – Mitarbeit – Michael Strecker
Tänzer*innen: Emma Barrowman, Rainer Behr, Andrey Berezin, Matthias Burkert, Michael Carter, Çağdaş Ermis, Jonathan Fredrickson, Scott Jennings, Milan Kampfer, Eddie Martinez, Dominique Mercy, Blanca Noguerol Ramírez, Breanna O’Mara, Nazareth Panadero, Franko Schmidt, Azusa Seyama, Julie Shanahan, Julie Anne Stanzak, Oleg Stepanov, Julian Stierle, Fernando Suels Mendoza, Tsai-Wei Tien, Stephanie Troyak, Ophelia Young, Tsai-Chin Yu

Pianists: Matthias Geuting, Christoph Iacono, Johann Kirschniok/Tim Kienacker, Ed Kortlandt; Saxophonist: André Enthöfer

Rehearsal Directors: Ruth Amarante, Michael Strecker, Robert Sturm

©Meyer_Originals
Von |2019-05-01T13:26:02+01:0027. März, 2019|

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