Pinas Prophezeiungen

„Das Stück mit dem Schiff“ – eine Neueinstudierung vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

Von Nicole Strecker

Was drauf steht, ist auch drin: ein Stück mit Schiff. Als 1993 Pina Bausch an einem neuen Stück arbeitet, baut ihr genialer Bühnenbildner Peter Pabst ein großes blaues Fischerboot, das auf einen sandigen Felsen aufgelaufen ist. Schief, aber immer noch sehr schön hängt das Schiff im Bühnenhintergrund auf den trockenen Steinen. Die Tanzfläche vorne ist mit warm leuchtendem Sand bedeckt. Wo ist das Meer geblieben? Eine wehmütige Idylle – „Das Stück mit dem Schiff“. Nach 24 Jahren hat es das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch neu einstudiert, wie üblich durch einige Tänzer:innen der Uraufführung, erstmals aber zusätzlich unterstützt durch eine gewissermaßen „Pina-neutralere“ Perspektive von der Künstlerin Saar Magal und dem Tanzpädagogen Niv Marinberg aus Tel Aviv. Denn mittlerweile hat schon mehr als die Hälfte der Kompanie die Tanztheater-Königin nicht mehr persönlich erlebt. Immer mehr erheben nachfolgende Generationen ihre Stimme in der schwierigen Diskussion über den richtigen Weg zwischen Werktreue und Neuinterpretation: Alles exakt wie früher – oder darf auch mal was der Zeit angepasst werden?

Tsai-Chin Yu in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Tsai-Chin Yu in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Nixen, Nymphen, Melusinen

Sollte es in dieser Inszenierung nun also Freiheiten für die Jüngeren gegeben haben, dann sind sie gut kaschiert. Man spürt, dass dieses „Schiffs-Stück“ seine Reise vor vielen Jahren angetreten ist, es gibt nichts, was nicht nach Pina Bausch aussähe. Allenfalls das Tempo der Bewegungen scheint manchmal den athletischer ausgebildeten Tänzer:innenkörpern der Gegenwart angepasst. Wenn etwa Jonathan Fredrickson in einem zauberhaften Moment die Beine twistet als wollte er sich im Sand eingraben, dann in Maximal-Speed, schneller als die Augen sehen können, fast glaubt man sich in einer Filmszene im Zeitraffer. Die Tanzsequenz beglückt auch deshalb, weil im übrigen Stück der Bausch-Style etwas überstrapaziert wird: Frauensoli mit fliegendem Langhaar und in unendlichen Varianten, Wiederholungen, neckischen Winzgesten, dramatischen Schwüngen durch die Luft geschlängelte Arme. Meerjungfrauen, Nymphen, Nixen, Sirenen – betörend durch ihre rätselhaften, in die Luft skizzierten Geschichten. Aber gerade in der ersten Hälfte des zweieinhalb-stündigen Abends hätte man bei so manchem Solo gern früher einen Cut gesetzt.

Alexander Lopez und Ekaterina Shushakova in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Alexander Lopez und Nayoung Kim in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Grausamkeit und Poesie

Trotzdem gilt natürlich: Es ist eben Pina Bausch und wie immer gibt es die Momente der Verblüffung, wo Dunkles und Heiteres eins werden, Lebenstragödien und -Komödien mit ein paar Sätzen, einem Bild auf den Punkt gebracht werden. Tänzerin Ophelia Young stapft in Pumps und ausgeleierter weißer Unterwäsche durch den Sand, verpasst einer Tischplatte in irrwitziger Geschwindigkeit winzige Küsse. So habe ihr Vater sie immer geküsst, sagt sie. So schnell wie möglich. Sie habe das auch so gewollt. Und schon scheint für einen Augenblick der Horror eines möglichen Missbrauchs auf. In einer anderen Szene umringt eine Gruppe Männer die Tänzerin Ditta Miranda Jasjfi. Böses scheint sich anzubahnen. Doch dann heben die Männer sie schräg in die Höhe und lassen sie davonfliegen wie einen befreiten Vogel.

Christopher Tandy und Tsai-Chin Yu in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Christopher Tandy und Tsai-Chin Yu in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Die ewige Wiederkehr des Immergleichen

Poetische Episode reiht sich an Episode – wann wird daraus ein Stück? Was macht diese Szene für gerade dieses Stück zwingend? Offene Fragen, die wie immer bei Pina Bausch allenfalls durch ein Flair zu beantworten sind, eine bestimmte Atmosphäre, die jedes ihrer Stücke prägt. Diesmal trägt die Zuschauer eine auffallend sanfte Brise durch die Bilderbruchstücke, kein Sadismus wie sonst so oft, kaum Sarkasmus. Bald tropft Wasser auf den sandigen Boden und es duftet leicht modrig nach Meer und Melancholie – der Geruch durchdringt selbst die Atemschutzmasken, die jeder im Publikum tragen muss. Tänzer:innen liegen am Strand wie angespültes Treibgut. Und von der ewigen Wiederkehr des Immergleichen erzählen auch die Auftritte des hünenhaft hochgewachsenen Tänzers Michael Strecker*, ein wahrer Fels in der Brandung, der ein ums andere Mal Tänzer:innen in seinen Armen auffängt, sie hält, bis sie sich beruhigt wieder von ihm lösen.

Ophelia Young in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Ophelia Young in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Climate Choreography

So mag es nicht das stärkste aller Bausch-Stücke sein, aber es ist für die Neueinstudierung beeindruckend präzise erarbeitet, jeder Griff sitzt, jeder Auftritt – auch gerade der neueren Tänzer:innen – hat selbstbewusstes Charisma (Einstudierung: Barbara Kaufmann, Héléna Pikon, Julie-Anne Stanzak). Die Zukunft gehört den Jungen – gerade auch in einem Stück, das so sehr der Schmerz der Vergänglichkeit prägt. Pina Bausch habe ihnen ein Bild vom Aralsee gezeigt, schreibt Nazareth Panadero in einem kurzen Text im Programmheft über die Entstehung des Stücks. Früher war der Aralsee einer der größten Binnenseen der Erde. Seit den 1960er Jahren trocknet er aus, ist mittlerweile fast ganz verschwunden. Eine menschengemachte Klimakatastrophe. So ist „Das Stück mit dem Schiff“ also offenbar auch ein bisschen „climate fiction“, besser „climate choreography“. Und das schon anno 1993! Vielleicht hätte also auch Pina Bausch diese Arbeit heute wieder aus dem Archiv geholt, hätte uns mit ihrem behutsamen, zärtlichen Nostalgie-Reigen von der Sehnsucht nach dem Wasser, ja dem Leben erzählt, ein Leben, das die menschliche Spezies nun selbst bedroht. Welche Prophezeiungen wir wohl noch in Pina Bauschs Stücken entdecken werden? Wir erfahren es nur, wenn wir sie immer wieder aufführen. Werktreu? Oder vielleicht doch mit ein bisschen Mut zum jugendlichen Pep.

*nicht verwandt mit der Autorin dieses Textes

HIER geht es zu unserer Besprechung des „Entwicklungsstandes“ vom November 2020

Ophelia Young in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus DilgerOpheliaTaylor Drury und Milan Nowoitnik Kampfer in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger

Taylor Drury und Milan Nowoitnik Kampfer in Das-Stück-mit-dem-Schiff_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus Dilger