„Neues Stück II“ von Alan Lucien Øyen kann in der Berliner Volksbühne nicht überzeugen

Nachtkritik und Kommentar von Klaus Dilger | aus Berlin

(K)EINE FRAGE DES GESCHMACKS – „Fremd im eigenen Leben“

Die erste Aufführung des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nach der fristlosen Entlassung der kurzzeitigen künstlerischen Leiterin, Adolphe Binder, fand am vergangenen Wochenende in Berlin, im Rahmen des Festivals „Tanz im August“, statt.

„Neues Stück II“ von Alan Lucien Øyen galt hierbei die Aufmerksamkeit des Berliner Festspiel Publikums, darunter Politiker des Bundes und der Stadt, die sich einen persönlichen Eindruck von der derzeitigen Verfassung des legendären Ensembles verschaffen wollten. Ein Anliegen, das nach dem Eklat kurz vor den Sommerferien, als die Nachrichten von der Entlassung der Intendantin die Tänzer auf Gastspielreise in Paris erreichten, durchaus verständlich ist.

Mitten unter den Bundespolitikern, ohne deren Unterstützung das geplante „Pina Bausch Zentrum“ in Wuppertal finanziell nicht zu stemmen wäre, Adolphe Binder, die demonstrativ als Zuschauerin an der Aufführung teilnahm. In den sozialen Medien hat sie die Wuppertaler Tänzer*innen mit den Worten willkommen geheissen, „Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner…“ (nach  Theodor Fontane).

Manche mögen dies mit Blick auf die ohnedies verunsicherten Tänzer und drohende „Lagerbildung“ innerhalb der Compagnie als „unpassend“ empfinden, um das Mindeste zu sagen, für andere zählt jedoch nur der Effekt und der Erfolg des Handelns: Während Sandra Luzina im „Tagesspiegel“ unter der Überschrift „Fremd im eigenen Leben“ unfreiwillig die Situation vielleicht auf den Punkt bringt, orakelt sie weiter – „Die Toten stehen wieder auf“, was sich natürlich in erster Linie auf das Stück bezieht. In ihrem Artikel beschreibt sie die Anwesenheit der ehemaligen Intendantin so: „Die Spannungen waren zu greifen, denn auch Binder zeigte sich in der Volksbühne – und aus Wuppertal waren einige der Strippenzieher angereist….“ (Noch Fragen zur Objektivität oder Qualität? Bei den „Angereisten“ handelt es sich um den Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, Andreas Mucke, der zusammen mit Stadtdirektor Dr. Slawig und dem Geschäftsführer des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Dirk Hesse, nach Berlin gereist war, um dem Ensemble symbolisch den Rücken zu stärken)

Neues Stück II Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ©Klaus Dilger

Neues Stück II Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ©Klaus Dilger

Für alle, die nur Schlagzeilen lesen, titelte Michaela Schlagenwerth schon mal vorsorglich in der Berliner Zeitung „Triumph einer gestürzten Intendantin“!

Damit diese Überschrift passt, musste natürlich auch die dazugehörige Aufführung passend gemacht und bejubelt werden. Leider! Das ist sehr bedauerlich, denn wir hätten es Alan Lucien Øyen und dem Tanztheater Wuppertal sehr gewünscht, dass sie aus den Ansätzen der Premiere im Juni ein Stück weiterentwickelt hätten, das derlei „passend machen“ gar nicht nötig hat.

Wir haben die Premiere von „Neues Stück II“ in Wort und Film ausführlich besprochen (Hier nachzulesen und zu sehen).

Alan Lucien Øyen hatte mit Hilfe der Befragung der Tänzer, in sehr kurzer Probezeit, eine authentisch anmutende Materialsammlung von beinahe drei Stunden Länge zusammengetragen und in einen szenischen Kontext gestellt, der die Nostalgie eines „Cinema Paradiso“ versprühte.

Es war, als würde der Zuschauer Zeuge der Entstehung eines 50er Jahre Films, vor, in und hinter den Kulissen eines imaginären Filmstudios.

Diese Kulissen fügten sich, wohldurchdacht, und zum Premierenzeitpunkt noch knirschend und knarzend, von Menschenhand bewegt, zu immer wieder neuen Szenarien zusammen. Das hatte Charme, Spannung und schuf, in Gestalt der Kulissenschieber, Brüche, die zugleich ordneten.

Die so entstehenden Perspektivenwechsel waren nicht nur räumlicher Natur, es war, als changierte die Handlung zwischen der Vorbereitung von Dreharbeiten, dem Dreh selbst, den Umbauten, Requisitenwechseln,  Proben der Szenen, wieder Dreh, wieder Pausen, in denen die Akteure Privates ausgetauscht haben. Es war der Blick in das Leben eines Filmsets, der beteiligten Menschen, ihren Geschichten und den Storyboards des entstehenden Film zugleich, der auch dem Zuschauer stets neue Rollen zuordnete… Darin bestand ein phantastisches Potential, von dem man glauben durfte, dass es nur noch einiger Kürzungen bedürfe, der Streichung einiger Dialoge, die mit dem Potential der Tänzerinnen und Tänzer so nicht klappen wollten. – Øyens erste Arbeit für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch wäre eine Bereicherung geworden.

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Es ist anders gekommen, so der Berliner Zwischenstand: Øyen hat seine Arbeit platt gebügelt.

Streichungen gab es kaum. Wie ein einziges, grosses Lamento dehnen sich Material und Zeit um weitere 44 Minuten Spielzeit, ohne dass etwas Neues hinzu gekommen wäre. Jeder Monolog und Dialog fühlte sich an, als würde er mit der immer gleichen Stimme, nur von einer anderen Person gesprochen. Die Lebendigkeit des Changierens vor, in und hinter die Kulissen, war nicht mehr vorhanden oder nicht mehr wahrnehmbar. Wie „geschmiert“ schoben die Tänzerinnen und Tänzer fast pausenlos, und irgendwann fast sinnlos anmutend, die Kulissen ineinander. Die faszinierenden Brüche, die durch diese „Bühnenarbeiten“ bei der Premiere entstanden (wie sie auch Pina Bausch immer wieder mit ihren Technikern eingesetzt hatte), wichen einer monotonen „Maschinerie“. Auch viele der Tanzszenen wirken nur noch dekorativ und abgekoppelt vom Bühnengeschehen, mit Ausnahme vielleicht des Duetts zwischen Jonathan Fredrickson und Douglas Letheren in dem Wort, Tanz und Aktion organisch ineinander griffen, sich bedingten und ergänzten.

Bei der Premiere noch eroberten sich die Tänzerinnen und Tänzer kraftvoll ihren Raum und die Bühne, weil sie es konnten und wollten. Auch dies ein Element, das dem Stück Dynamik verliehen hätte, anstatt es mit Blei zu übergiessen.

Nazareth Panadero fragt an einer Stelle Çağdaş Ermis: „Haben Sie Angst vor dem Sterben?“ Und als er antwortet „Nein, vor dem Leben“, erwidert sie, „das ist doch das Gleiche“. Nicht Wenige wollten soviel Trauer nicht die gesamten drei Stunden und vierundvierzig Minuten ertragen und verliessen das Theater noch während der Aufführung oder kamen aus der Pause nicht mehr zurück. Das war bei der Premierenversion in Wuppertal noch anders.

Mit der Version in der Berliner Volksbühne ist es Øyen nicht gelungen zu überzeugen, das ist mehr als schade.

Es kann nur spekuliert werden, inwieweit sich das reale Trauerspiel auf der bisherigen Führungsebene des Ensembles auf die Tänzerinnen und Tänzer und somit auf die Entwicklung und Präsentation des Stückes niedergeschlagen haben. Sicher ist, dass derlei Gezerre das Ensemble zu zerreissen droht und sofort eingestellt werden muss, wenn den Beteiligten die Zukunft des Erbes von Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal mehr am Herzen liegen, als das jeweilige Ego.

Heute findet in Wuppertal die Güteverhandlung im Arbeitsprozess Adolphe Binder | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH statt – Eine Gelegenheit, die nicht erfolglos vorübergehen sollte!

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018

Neues Stück II | Eine Kreation von Alan Lucien Øyen | Tanztheater Wuppertal Pina Bausch | UA 2. Juni 2018