Zeitlose Gültigkeit: Zur Wiederaufnahme von “VOLLMOND” im Opernhaus Wuppertal
Anmerkung der Redaktion: Wir freuen uns über eine Besprechung, die anlässlich der Premiere von “Vollmond” und zu Lebzeiten von Pina Bausch geschrieben wurde und noch heute uneingeschränkt Gültigkeit besitzt, und ja , die durch die aktuellen Ereignisse um das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch sogar noch zusätzliche Bedeutung erhält, weil sie, von Sach- und Fachwissen geprägt, über jeden Zweifel der voreingenommenen und die eigentliche Kunst verdrängenden Berichterstattung erhaben ist, wie sie in den letzten Wochen so häufig zu beobachten war. Norbert Servos ist ein ausgewiesener Kenner des Werks von Pina Bausch und hat zahlreiche Bücher über deren Oeuvre geschrieben und veröffentlicht.
“Die Schlafwandlerin der Liebe bei «Vollmond» betrachtet”
von Norbert Servos
über die Wuppertaler Ikone im feinen fahlen Licht ihrer gleichnamigen Premiere
Die Bemerkung stammt von Bertolt Brecht: dass die größte Wirksamkeit eines Künstlers kaum je mit der größten (öffentlichen) Anerkennung einhergehe. Will heißen: Wenn es Preise, Ehrungen und Auszeichnungen hagelt, hat sich der revolutionäre Elan des Anfangs längst verbraucht.
Das scharfsichtige Statement galt auch für den Erneuerer deutscher Dramatik selbst.
Legte der Großmeister sozialer Gesellschaftskritik in Frühwerken wie dem «Baal» noch gezielt den Finger in die Wunden und ließ einen lustvollen Anarchismus aufstehen, so schnurrte in den sogenannten Lehrstücken mehr und mehr die Botschaft auf griffige Nenner zusammen. Eine Formel war gefunden, die fortan nur noch Variationen erlebte. Vorbei die Zeiten, in denen Brüche, Diskontinuitäten und Offenheit das Werk prägten. Der Revolutionär erschuf sich selbst zum Denkmal und erstarrte.
Nun mag man kaum einem Künstler verdenken, dass er nach zwanzig, dreißig Schaffensjahren eine wie auch immer gegründete «Sprache» gefunden hat und innerhalb dieses modus operandi lediglich Variationen kreiert. Im Gegenteil: Eher lächerlich wirkt die Pose des Berufsrevoluzzers und Dauerjugendlichen, der auch im Alter von sechzig, siebzig Jahren die Attitüde des zornigen Aufrührers nicht ablegen mag. Die Ergebnisse wirken stets eher bemüht. Heikel wird die künstlerische Lage, wenn der eigene Stil zur Masche mutiert. Wenn die Perfektionierung der Form mit einer schleichenden Entkernung des Inhalts einhergeht. Dann wird das anerkannte Label zur Mogelpackung. Resultat: Enttäuschung.
Die Pionierin der Auszeichnungen
Auch Pina Bausch, (Anm. der Red.: in 2006) seit nunmehr 33 Jahren mit ihrem Tanztheater in Wuppertal beheimatet, ist durch diesen unvermeidlichen Prozess gegangen. Vorbei die Zeiten der 1970er bis in die frühen achtziger Jahre, als jede Premiere einen Skandal auslöste und bei Publikum und Presse heftige Diskussionen nach sich zog. Längst wurde die Pionierin des Tanztheaters mit den weltweit höchsten Auszeichnungen bedacht. Sehr zu Recht. Denn die Aufbruchsbewegung, die in Wuppertal auf den Punkt gebracht wurde, hat eine weltweite Emanzipation des Tanzes angeregt, hat ihn endgültig aus den Fesseln des schönen Scheins befreit. So viel Freiheit wie heute war nie. Aber gilt Brechts spitzzüngige Diagnose auch für das Wuppertaler Tanztheater? Durchbruch und Anerkennung erreicht; künstlerische Totenstarre eingetreten?
Interessant ist in der Rückschau, wie sich die Kritik am Wuppertaler Werk gewandelt hat. Waren es anfänglich meist die Connaisseurs des klassischen Balletts, die bezweifelten, dass es sich beim Tanztheater überhaupt um Tanz handle, und die krasse Realitätshaltigkeit als unästhetisch brandmarkten, waren es ab den späten 1980ern die eigenen Parteigänger, die dem Tanztheater die Gefolgschaft aufzukündigen drohten. Kaum hatte sich Pina Bausch vom Leiden an der Liebe ein wenig ab- und der sinnlichen Lust am Dasein zugewandt, vermutete die Klientel zunehmenden Realitätsverlust. Nostalgieselig sehnten sie sich in die guten alten Zeiten zurück, als man noch wenig zu lachen hatte. In den letzten Jahre justierte die Kritik mehr und mehr ihre Attacken auf die zahlreichen weltweiten Koproduktionen der Wuppertaler. Hochsubventionierter Kulturtourismus sei dies, die Stücke nur noch freundlich arrangierte Reiseandenken, Unterhaltung eben.
Die Vermesserin der Messlatten
So recht greifen mögen solche Pauschalurteile nicht; und der enttäuschte Liebhaber verrät meist mehr über sich selbst als über das Objekt seiner Begierde. Ein Werk, das höchste Maßstäbe gesetzt hat, kann am Ende wohl nur an den eigenen Standards gemessen werden. An diese Messlatte gehalten zeigten die Stücke der vergangenen Jahre tatsächlich Schwächesymptome. Perfektioniert präsentierte sich die Dramaturgie, gefährlich bruchlos wurden die Szenen ineinander gefügt. Ohne Pause unterband die endlose Musikcollage jedes Innehalten, jede Gegenbewegung; und so manche Hard-Rock-Wahl verkündete einen befremdlichen Willen zur Jugendlichkeit. Das mochte weder zum Bewegungsduktus noch zum Sehnsuchtsmotiv passen. Irritierend oft auch verwendete Pina Bausch das immer gleiche Strickmuster fürs Finale: eine gerannte, gehetzte Solo-Parforce-Tour, die eine letzte Übersteigerung hergeben sollte und doch nur rasend auf der Stelle trat.
Die Beleuchterin des Vollmonds
Umso erstaunlicher ist, was Pina Bausch mit ihrer Neuproduktion «Vollmond» wieder gelingt. Nicht nur hatte das Stück bei seiner Premiere im Wuppertaler Schauspielhaus bereits einen Titel. Auch kein Vertreter des Tanztheaters verkündete diesmal – wie sonst üblich –, die Choreografin lege Wert auf die Feststellung, das Stück sei noch nicht fertig. Sicher und klar artikuliert sich die Prinzipalin des Tanztheaters in «Vollmond».
Peter Pabsts nüchtern schwarz ausgehängte Bühne zeigt im Hintergrund einen knöcheltiefen Wassergraben, überwölbt von einem grausilbrig schimmernden Findling wie eine Brücke. Unter ihm lässt sich, als ginge es ums Überleben, hektisch hindurch schwimmen und tauchen. Aus dem Bühnenhimmel tröpfelt und rinnt, bis zum Landregen gesteigert, immer wieder Wasser im schönsten Gegenlicht.
Einmal mehr hält Natur Einzug auf der Tanztheaterbühne, doch diesmal in wunderbarer, fast japanisch anmutender Strenge. Marion Citos Kostüme beschränken sich auf wenige starke Farbakzente, ansonsten dominieren Schwarz, Weiß und Grau. Wie die strenge Bühne geben sie den Grundton vor, den Pina Bausch in diesem groß angelegten Kammertanzstück mit nur zwölf Tänzern anschlägt: Schlafwandler der Liebe sind sie, auf schmalem Grat balancierend und stets vom Absturz bedroht. «Es wird eine stürmische Nacht, bitte anschnallen», verkündet Nazareth Panadero mit Stentorstimme im ersten, etwa einstündigen Teil.Und tatsächlich ordnet Pina Bausch ihre szenischen Kompositionen von Anfang an mit zupackender Genauigkeit. Natürlich trifft man auch diesmal die bekannten Erfindungen. Es gibt sie wieder, die gegenseitigen Neckereien und harsch abgeforderten Liebesdienste. Zwei Tänzerinnen fechten einen Wettbewerb aus, wessen Beine wohl besser auswärts gedreht, wessen Hände sich mehr zurück biegen lassen. Zwei Männer müssen sich im möglichst schnellen BH-Öffnen vergleichen.
Die Durchschwimmerin der Kontraste
Doch von Anfang an achtet die Choreografin diesmal auf harte Gegenthemen. Umarmungen umklammern derart verzweifelt den Partner, dass sie nicht mehr zu lösen sind. Ditta Miranda Jasjfi schlägt sich brutal mit der Faust ein Lachen aus dem Bauch, dann wieder tanzt sie ein berückend schönes Solo, zart und vorsichtig balancierend zwischen Hingabe und Verwirrung. Einmal mehr ist es in «Vollmond» die meisterhafte Kunst der Kontrastierung, die Pina Bausch beeindruckend inszeniert. Wenn am Ende des ersten Teils alle den flachen Graben durchschwimmen wie Reptilien, spürt man, was das Tanztheater zu leisten imstande ist: Es verführt in Zwischenreiche, die von archaischer Vorzeit und zugleich von hier und heute berichten.
Im zweiten, etwa gleich langen Teil geht Pina Bausch ihrem Liebesthema endgültig auf den Grund. Wieder sind es nicht die altbekannten Sketche, die die eigentliche Botschaft übermitteln. Sie ist ganz auf die zum Teil nicht enden wollenden Soli gestellt – sexy grundiert bei Nazareth Panadero und Julie Anne Stanzak; poetisch traumverloren bei Ditta Miranda Jasjfi, Helena Pikon und Fernando Suels; kraftvoll bei Michael Strecker.
Es sind ins Leere laufende Umarmungen, die die Sehnsucht nach einem Gegenüber nicht aufgeben können; in die Luft geschriebene Zeichen, an niemanden gerichtet oder an jeden. Die vorgefertigten Zweisamkeiten, in die alle flüchten, lösen die Sehnsucht nicht ein, so wenig wie die über den Boden ruckelnden Sitztänze. In welche Not einen der Liebeswunsch treiben kann verkörpert einzigartig Dominique Mercy in seinem Solo, schwankend, ratlos und rastlos, sich selber vorwärts prügelnd.
So löst sich diesmal am Ende auch die gerannte Solo-Parforce-Tour im Regen ein. Gruppentänze am Boden mischen sich mit hastig absolvierten Soli. Eine alarmierende Not wird spürbar, am Rand der Verzweiflung. Keine Konvention bietet Halt; kein Sich-Aufbäumen stillt den Lebens- und Liebeshunger; keine Rettung ist in Sicht. Aber den Glauben daran, dass es sie geben muss, irgendwann, den geben die Wuppertaler Tänzer nie auf.
Anmerkung der Redaktion: Wir freuen uns über eine Besprechung, die anlässlich der Premiere von “Vollmond” und zu Lebzeiten von Pina Bausch geschrieben wurde und noch heute uneingeschränkt Gültigkeit besitzt, ja , durch die aktuellen Ereignisse um das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch sogar noch zusätzliche Bedeutung erhält, weil sie, von Sach- und Fachwissen geprägt, über jeden Zweifel der Hofberichterstattung für potentielle Auftraggeber*innen erhaben ist (sei es in Form einer erhofften Dramaturgen-Anstellung oder dem erhofften Schreiben eines Programmheftes – ja, das Gewerbe des Kulturjournalisten ist oft ein prekäres). Norbert Servos ist ein ausgewiesener Kenner des Werks von Pina Bausch und hat zahlreiche Bücher über deren Oeuvre geschrieben und veröffentlicht.