ÁGUA von Pina Bausch

Wiederaufnahme am Tanztheater Wuppertal

Auf Wasser gebaut

von Lilo Weber

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Lilo Weber hat sich beim Tanztheater Wuppertal die Wiederaufnahme von Pina Bauschs Brasilien-Stück „Água“ als erste Premiere unter der Leitung von Boris Charmatz angeschaut. Und sie hat sich nach 21 Jahren wiederum vom Tempo packen lassen, mit dem hier ein verlorenes Paradies betanzt wird.

Die grosse Überraschung traf uns damals gleich zu Beginn: Die Bühne im Opernhaus Wuppertal war leer. Leer und weiss. Kein moosbewachsener Fels, kein Lavastrom, kein Berg aus Pfingstrosen, keiner jener Landschaftsbrocken, die Peter Pabst in den vielen Jahren davor gewissermassen als feste Referenz für den Tanz des Tanztheaters Wuppertal auf die Bühne gesetzt hatte. Dieses Mal setzte er auf Projektionen und somit auf Bilder, so flüchtig wie der Tanz der Tänzerinnen und Tänzer, flüchtig, wie die Materie, auf die das Stück referiert: „Água“. Der Titel war damals an der Premiere 2001 noch nicht gefunden, und so fand „Água“ erst seinen Weg als Brasilien-Stück in die Medien, denn von ihrem Recherche-Aufenthalt in Brasilien hatten Pina Bausch und ihr Ensemble die Erinnerungen einfliessen lassen.

Es blieb als Brasilien-Stück auch in meinem Computer. Bis ich mich ihm zur Premiere der Neueinstudierung in Wuppertal wieder zuwandte. Ich erinnerte mich an „Água“ als ein federleichtes Stück, als Höhepunkt einer Leichtigkeit, einer Gelassenheit, aber auch einer unbändigen Freude am Tanz, welche Mitte der 1990er Jahre in die Stücke Pina Bauschs einzogen. Einige Kolleginnen und Kollegen mochten damals das Sperrige aus den Stücken der 1980er Jahre missen, harte Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau, fiese Spiele beispielsweise. Ich erinnere mich aber durchaus auch an Brüche, die sich zwischen den Latino-Songs in der Collage von Matthias Burkert und Andreas Eisenschneider einspielten. Ich erinnere mich an eruptive Tänze, die auf dunklere Schichten verwiesen. Wenn auch eben leicht, schillernd – vieldeutig.

AGUA_Pina-Bausch_TTW©Klaus-Dilger

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Junge Tänzerinnen und Tänzer hatten in jenen Jahren zum Tanztheater Wuppertal gefunden, und sie brachten ihr eigenes, neues, Bewegungsmaterial ein. Und: Nachdem Frauen, angeregt von den Denkerinnen und Forscherinnen der Neuen Frauenbewegung, Jahrzehntelang an den sogenannten Männer- und Frauenbildern wie an der herkömmlichen Rollenverteilung gekratzt hatten, war nun der Kampf in den Beziehungen der westeuropäischen Mittelschichten einem gewissen Mass an Pragmatismus gewichen, in der Art: Ich wasche gerne die Windeln, aber zieh dir doch wieder mal die Spitzenwäsche an, die ich für dich gekauft habe.

Derlei floss in „Água“ ein und wird auch heute deutlich. Männer mögen ein bisschen an den Frauen herumschnüffeln, aber mehr liegt nicht drin. Und schmeissen sich die Frauen wider Erwarten vor sie hin und heben das Kleid, gehen die Männer einfach vorbei – besser so. Ein Zusammenkommen gibt es nicht, nur Feuerpause. Sie wird zur Feier der Tanzlust. Das Stück setzte ein neues Tempo. „Água“ ist eines der schnellsten Stücke von Pina Bausch, getrieben damals von Wahnsinnstänzerinnen und -Tänzern wie Rainer Behr, Fabien Prioville, Cristiana Morganti, Jorge Puerta Armenta, die mit und gegen die Bewegungen der Palmenwedel oder Flügelschläge von Vögeln auf den Videos von Peter Pabst über die Bühne wirbelten. Grossartige Bilder hatte die Kompanie von ihrer Reise nach Brasilien mitgebracht: Urwald, sonnige Strände, trommelnde Menschen – und Wasser, viel, viel Wasser. 

AGUA_Pina-Bausch_TTW©Klaus-Dilger

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Heute, nach dem Verlust von weiteren Hunderttausenden von Quadratkilometern Regenwald und nach über 680’000 Corona-Toten liest sich das Stück wie eine Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Dass Brasilien das auch damals nicht war, wissen wir. Und davon weiss dieses Stück, in dem alles flüchtig ist, insbesondere das Glück. Die wunderschönen flüchtigen Bilder von Peter Pabst und die rasende Tänze erzählen von Vergänglichkeit – und vermögen nur notdürftig die Brüche in diesem Paradies zu überdecken. So, wie eben Lisas Tattoos im eingespielten Song “Pretty Lisa“ der Tiger Lillies nicht wirklich die Prellungen verdecken, die ihr der Zuhälter Tony verpasst. „Eigentlich wollte ich was Schönes machen“, ruft Julie Shanahan. Aber es geht nicht. Nichts gelingt, was man sich vornimmt. Chance verpasst.

Julie Shanahan ist eine von fünf Darstellerinnen und Darsteller, die damals das Stück mitkreiert hatten. Einige wenige der Tänzerinnen und Tänzer hatten bereits vor 2016 „Água“ getanzt, als es zum letzten Mal aufgeführt wurde. Der grosse Teil aber ist neu besetzt, die Rolle von Aida Vainieri gar aufgeteilt auf drei Tänzerinnen. Die Neuen machen das hervorragend. Jüngere Mitglieder wie Milan Nowoitnick Kampfer und Dean Biosca tanzen sich in den Parts von Fabien Prioville und Rainer Behr um Kopf und Kragen, technisch brillant und virtuos. Vielleicht eine Spur zu brillant. Wo ist das Fiebrige dieser Tänze, das ich glaube in Erinnerung zu haben?

Was die Energie des Stücks betrifft, eignet sich „Água“ eigentlich gut für Tänzerinnen und Tänzer einer neuen Generation. Es wurde vor 21 Jahren mit einem damals ebenfalls verjüngten Ensemble kreiert. Was aber die Dringlichkeit betrifft, vermisse ich die Alten. Wohlwissend, dass die in der Zwischenzeit auch 21 Jahre älter geworden sind und ob der schwindelerregenden Tänze wohl mehr als Kopf und Kragen riskieren würden. Aber diese Tänze waren die ihren. Noch sind sie nicht wirklich die Tänze der Neuen, sondern gut getanzte Tänze eines guten Stücks. Das wird sich ändern, wenn „Água“ länger gespielt wird. Zu hoffen ist, dass diese famosen Tänzerinnen und Tänzer sich das leisten dürfen und nicht bald wieder durch jüngere ersetzt werden.

AGUA_Pina-Bausch_TTW©Klaus-Dilger

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