DECKEL DRAUF….?
…das Tanztheater Wuppertal stellt quantitativ pralle Spielzeit 2021/22 vor
Kommentar und Zusammenfassung von Klaus Dilger
„…Bettina Wagner-Bergelt, Intendantin und Künstlerische Leiterin des Tanztheater Wuppertal und Roger Christmann, Geschäftsführer des Tanztheaters stellten heute gemeinsam mit Matthias Nocke, Kulturdezernent der Stadt Wuppertal, den Spielplan der Saison 2021-2022 vor. …“, so die Eingangszeilen der Pressemeldung des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.
Kein ungewöhnliches Unterfangen, in normalen Zeiten. Aber was ist schon „normal“ während der Corona-Pandemie im Allgemeinen und beim Tanztheater Wuppertal im Besonderen? Denn eigentlich hätte an Stelle von Frau Wagner-Bergelt die neue künstlerische Leitung des weltberühmten Ensembles ihre Pläne für die kommende und darauffolgende Spielzeiten vorstellen müssen. Eine Künstlerpersönlichkeit, die dem Vernehmen nach mit über Zwei-Drittel-Mehrheit von der Belegschaft des Tanztheaters gewählt wurde und spätestens im Herbst des vergangenen Jahres hätte verpflichtet werden müssen, nachdem einzelne Fragen zufriedenstellend nachverhandelt wurden.
Doch es kam ganz anders…
… weshalb es der Sachlage entsprechend angemessen gewesen wäre zu versuchen, die wahren Gründe des Nichtzustandekommens in einer Pressekonferenz hinterfragen zu lassen und mögliche Vertrauensverluste durch solche Transparenz zu minimieren. Immerhin wurde von Stadt, Land und Intendanz der aussergewöhnliche Versuch, eine neue künstlerische Leitung eines so bedeutenden Ensembles durch die Künstler_innen und Mitarbeiter_innen maßgeblich selbst bestimmen zu lassen, als modellhaft und herausragend „gepriesen“. (Eine Vorgehensweise, die sich das Ensemble erkämpft hatte, nachdem es sowohl mit Adolphe Binder, als auch mit Wagner-Bergelt, ungefragt mit zwei Kuratorinnen anstatt Künstlerinnen, vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, einschliesslich der daraus resultierenden Ergebnisse).
Statt sich den Fragen der Medien zu stellen, wie maßgeblich das Wörtchen „maßgeblich“ beim nicht zustande kommen einer Neubesetzung interpretiert wurde, auch wenn der Bewerber wohl letztendlich selbst hingeworfen hatte, gab es nur eine knappe Pressemeldung, die nur in punkto Verlängerungsdatum eindeutig und präzise zu sein scheint:
„ Tanztheater: Geschäftsführung geht in die Verlängerung
Der Finanzausschuss der Stadt Wuppertal hat in seiner Sitzung am 23. Februar auf Vorschlag des Aufsichtsrates der Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH einstimmig entschieden, die ursprünglich Ende Juli 2021 auslaufenden Verträge der Geschäftsführung um ein Jahr zu verlängern. Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann bleiben also bis zum 31. Juli kommenden Jahres an der Spitze des Tanztheaters.
Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal: „Wir haben in den letzten Monaten mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Tanztheaters und den Mitgliedern des Aufsichtsrates intensiv über die zukünftige künstlerische Leitung des Tanztheaters gesprochen. Unter anderem durch die sehr speziellen Bedingungen angesichts der aktuellen Corona-Pandemie, die einen persönlichen Austausch nur sehr bedingt zulassen, konnten wir diese Überlegungen noch nicht abschließen. Ich freue mich deshalb – und diese Freude teile ich mit unserem Partner, dem Land Nordrhein-Westfalen –, dass die aktuelle Geschäftsführung bereit ist, ihre in den letzten beiden Jahren sehr erfolgreiche Arbeit um eine Spielzeit zu verlängern.“
Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann zu der Verlängerung: „Wir freuen uns über das Vertrauen des Aufsichtsrates und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unsere Arbeit. In den letzten Monaten waren wir nahezu ausschließlich damit beschäftigt, die Kompagnie so gut wie möglich durch die aktuelle Pandemie zu führen. Durch die Verlängerung um eine Spielzeit hoffen wir, im kommenden Jahr die künstlerischen Projekte, die dieses Jahr verschoben wurden, doch noch dem Wuppertaler und dem internationalen Publikum präsentieren zu können.“
Bilanz und Rückblick
… es hätte noch schlimmer kommen können:
Positiv waren die Zahlen, die Roger Christmann am 27. Mai präsentierte, sie zeigten dass das Tanztheater mit geschickter Planung und Hilfen der Stadt, des Landes und des Bundes, zumindest finanziell relativ unbeschadet durch die Pandemie gekommen ist.
Positiv auch, dass es die (Über)Fülle der vorgestellten Produktionen der Spielzeit 2021/22 nicht zulässt, dass Frau Wagner-Bergelt ihr Vorhaben wahrmachen kann, das Ensemble und das Publikum mit allen „Begegnungen“ zu konfrontieren, die sie in der letzten Spielzeit vorgesehen hatte. Die Impressionen im Rahmen von „under construction“ im November 2020, insbesondere wie sich Helena Waldmann (eine der „Begegnungen“) den, von der Intendantin ständig proklamierten, Transformations-Prozess der Compagnie vorzustellen scheint, lassen auch gute Seiten an der Pandemie erkennen, wenn dadurch solche „Begegnungen“ verhindert oder überdacht werden können. (Waldmann stellte filmisch Julie Shanahan, Eddie Martinez und Nazareth Panadero, drei Ikonen des Tanztheaters, als Garderobieren hinter den Manteltresen des Alten Schauspielhauses, …. quo vadis Tanztheater?)
Für eine echte Bilanz wird es spätestens zum Abschied von Frau Wagner-Bergelt an der Zeit sein, auch in der Fragestellung, wie das Tanztheater Wuppertal sich künstlerisch im Verhältnis zu anderen bedeutenden Tanzcompagnien der Welt in Corona-Zeiten positionieren konnte – denkt man beispielsweise an die niederländischen Het National Ballet und Nederlands Dans Theater (NDT), die sich schon im März 2020 hochkarätig und ausschliesslich auf den digitalen Raum verlagert hatten.
Eine erste Zwischenbilanz
des zurückliegenden Corona-Jahres, seit März 2020, fällt künstlerisch fragwürdig aus: anstatt die gesamte Bandbreite künstlerischer Kreativität und Medien mit Blick auf vorhersehbare Pandemie-Entwicklungen in kleineren Gruppen zu fördern, zu nutzen und sichtbar zu machen, setzte die künstlerische Leitung auf die Wiederaufnahme von „Das Stück mit dem Schiff“ und damit die gesamte Compagnie, plus Gäste, plus ehemalige Tänzer_innen bei der Weitergabe ihrer Soli dem gesundheitlichen Risiko aus, physisch wie psychisch.
Im Ergebnis ist mit viel Glück niemand physisch erkrankt.
Was dann jedoch als vermeintliche Premiere an die Fassade des Alten Schauspielhauses projiziert und abgefilmt wurde und als „Live Stream“ im Netz zu sehen sein sollte, war in Wahrheit eine der ersten kompletten Durchlaufproben und zeigte das Ensemble in einer kaum zuvor gesehenen Verfassung. (wir berichteten darüber)
So lässt sich enorm viel Vertrauen verspielen – im Ensemble und gegenüber dem Publikum. Dass im Ergebnis nur 1.400 Zuschauer weltweit bei freiem Eintritt „das schiff ist das schiff ist… das stück mit dem schiff goes digital“ so der Titel, den die Intendanz dafür gefunden hatte, verfolgten, spricht Bände.
Im Januar 2022 soll es nun im Originaltitel Premiere feiern dürfen. Die genaue Besetzung scheint noch nicht fest zu stehen, wie bei den allermeisten der angekündigten Stücke der kommenden Spielzeit. Mit ein Grund dürfte darin liegen, dass erneut einige der besten jüngeren Tänzerinnen und Tänzer das Ensemble zum Spielzeitende verlassen werden, wie bereits in der Spielzeit zuvor.
„Ein normaler Prozess“, meinte dazu die Intendantin, die zuvor am Bayerischen Staatsballett tätig war und die bei ihrer Antrittspressekonferenz gefragt wurde, ob sie sich der weltweit einmaligen Bedeutung des Mehrgenerationen-Ensembles bewusst sei und ob sie alles daran setzen werde, dass dies auch zur Eröffnung des Pina Bausch Zentrums in 2027 noch so sein werde.
Diese Frage, die sie bejahte, war notwendig geworden, nachdem sie darauf hingewiesen hatte, dass sie (am Bayerischen Staatsballett, wo Tänzerkarrieren oft nicht sehr lang sind) schon viele Tänzer_innen einer neuen beruflichen Laufbahn zugeführt habe und auch, weil sie den offensichtlichen Qualitäts-Unterschied nicht erkennen konnte oder wollte, der bei der Interpretation des Pina Bausch Stückes “Für die Kinder von gestern, heute und morgen” durch das Bayerische Staatsballett schmerzlich sichtbar wurde.
Vor dem Hintergrund des Verlusts an hervorragenden Künstler_innen, der mittlerweile auch die jüngeren Tänzer_innen erfasst, die gerade erst in das Werk von Pina Bausch so exzellent hineingewachsenen waren, wurde die Intendantin erneut an diese Frage erinnert und mit ihrer damaligen Antwort konfrontiert. Ergebnis: Ihre Antwort von damals sei ja bereits zwei Jahre her, so Wagner-Bergelt..… (…was sich wohl so lesen lässt, dass sie sich damals noch nicht vorstellen konnte, wie wenig sie in der Lage sein würde, diese Compagnie zu leiten)
Wenn jüngere Tänzerinnen und Tänzer wie Breanna O’Mara, Ophelia Young, Stephanie Troyak, Paul White, Scott Jennings, Jonathan Fredrickson, Michael Carter, Damiano Bigli, Douglas Letheran, Pau Aran Gimeno, um nur die letzten Verluste zu nennen, die Compagnie verlassen, dann wirft dies die Arbeit des Tanztheaters, insbesondere im Hinblick auf die Weitergabe des Werks von Pina Bausch, nicht wieder aufholbar um Jahre zurück und es steht zu befürchten, dass diese Liste nicht einmal vollständig ist.
Für die Tänzerinnen und Tänzer, die noch mit Pina Bausch gearbeitet und deren Werke mit geschaffen haben, stellt die Corona Pandemie zusätzlich und in ganz besonderem Maße eine Katastrophe für die ganz persönlichen Karriereplanungen dar. Zwei Spielzeiten – einfach weg – und die Spielplangestaltung der künstlerischen Leitung, wie sie nun vorgestellt wurde, scheint wenig Rücksicht darauf zu nehmen. (Genaueres wird sich zeigen, sobald die Besetzungslisten bekannt werden)
Lediglich Rainer Behr greift in seiner anstehenden Uraufführung, die zunächst als Film am 2. Juli Premiere feiern wird, auf das Mehr-Generationen-Ensemble zurück (Bühnenpremiere am 20. Januar 2022), während Richard Siegal für sein „Shooting into the Corner“, so der Arbeitstitel der Uraufführung, bezogen auf das gleichnamige Werk von Anish Kapoor von 2009, mit acht Tänzer_innen arbeitet, von denen fünf ganz neu in das Ensemble gekommen sind. (Premiere wird am 4.November sein).
Von allen weiteren Aufführungen steht, wie bereits geschrieben, noch keine Besetzung fest.
Wie geht es weiter mit der Künstlerischen Leitung?
Vor mehr als einem Jahr haben wir HIER (geht es zum Artikel) auf TANZwebNRW,de ausführlich die Lage des Tanztheaters in Bezug auf den Findungsprozess einer neuen Künstlerischen Leitung für das Tanztheater und die kausalen Zusammenhänge mit der Schaffung von Leitungsstrukturen eines kommenden Pina Bausch Zentrums analysiert. Diese Zusammenhänge könnten zu einer Generalintendanz führen, die auch bestimmend sein würde für die Leitung des Tanztheaters. Wo also bleibt unter dieser Prämisse die „maßgeblich bestimmende Beteiligung der Mitarbeiter“ bei der Besetzung einer neuen künstlerischen Leitung für die Compagnie?
Wer verfolgt heute noch solch hierarchische Strukturen, wie die einer General-Intendanz?
Wo ist der grosse, auch künstlerische und visionäre, Befreiungsschlag, der den Künstler_innen Selbstbestimmung ermöglicht, auch in solch grossen Strukturen?
Künstler_innen sollten gemeinsam ihre Visionen für das Pina Bausch Zentrum entwickeln und umzusetzen versuchen. Dafür müssen sie sich auch selbst ermächtigen dürfen und können, denn nur die Kunst ermöglicht es, beständig Dinge zu denken und zu entwickeln, die über die Wahrscheinlichkeit und das Vorhersehbare hinausgehen und dennoch Gültigkeit besitzen.
Entspricht das, was sich die Intendanz zum Abschluss der Pressekonferenz, der viele andere hätten vorausgehen müssen, versucht auf die Fahnen zu schreiben auch nur im Ansatz der Wirklichkeit und Wahrheit?
„Der von Bettina Wagner-Bergelt und Roger Christmann initiierte Demokratisierungs- und Kommunikationsprozess im Ensemble und die Entwicklung partizipatorischer Formate im Hinblick auf organisatorische und künstlerische Entscheidungen soll auch in Zukunft weiterentwickelt und intensiviert werden…“
Das darf bezweifelt werden, nicht nur weil sich die Mitarbeiter_innen die Mitbestimmung erkämpft haben, also von Initiierung keine Rede sein kann.
Am 25. Mai wurde im Rat beschlossen, dem sogenannten „actori Papier“ zuzustimmen, das bereits weitgehend das Betreiber Konzept für das Pina Bausch Zentrum festlegt und auch Inhalte beeinflusst.
Was diese Inhalte anbelangt, so machte der Stadtkämmerer Dr. Slawig deutlich, dass die Stadt hierbei auf ihre Partner angewiesen sei, die eigene Ideen mitbrächten. Allen voran das Land, das schließlich Mitgesellschafter werden solle. Mit dem habe man sich auch geeinigt, ein oder zwei Personen mit der inhaltlichen Entwicklung zu betrauen.
Es wäre angesichts des bisherigen Debakels um die Planung des Pina Bausch Zentrums nicht überraschend, wenn Frau Wagner-Bergelt zu diesen ein oder zwei, von der Politik bestimmten, Personen gehören würde, aber mit einem Zentrum, das den Namen Pina Bauschs verdienen oder gar deren visionären Charakter tragen würde, hätte dies dann wohl nichts mehr zu tun …