Zweite Premiere beim Tanztheater Wuppertal

Orpheus und Eurydike – Ein bemerkenswerter Tanzabend

Im Wuppertaler Opernhaus berührt die Neueinstudierung mit neuer Besetzung zutiefst

von Klaus Dilger

Es ist ein bemerkenswerter Tanzabend und dies in vielerlei Hinsicht, der am 9.April diesen Jahres im Wuppertaler Opernhaus als Neueinstudierung Premiere feiern durfte (wir berichteten) und nun mit alternativ besetzten Rollen in einer zweiten Premiere zutiefst zu berühren vermochte.

Seit 2005 (bis 2018) war „Orpheus und Eurydike“, nach „Iphigenie auf Tauris“ und „Sacre du Printemps“, das dritte Stück von Pina Bausch im Repertoire der Pariser Oper, das sie selbst dort mit den Tänzerinnen und Tänzern des weltberühmten Ballettensembles einstudiert hatte. In 2008 filmte arte in der Pariser Oper diese Inszenierung und produzierte davon nach der Ausstrahlung eine DVD, die sich weltweit verkaufte.

Michael Hofstetter, dem künstlerischen Leiter der Gluckfestspiele in Fürth, ist es zu verdanken, so erfahren wir aus dem schönen, aufwändigen und informativen Programmheft, dass sich das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch trotz des unvermeidlichen Vergleichs mit dem weltberühmten „Ballet de l’Opéra de Paris“ an die eigene Wiederaufnahme des Frühwerks der Choreografin aus dem Jahr 1975 herangewagt hat.

Orpheus-und-Eurydike_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Orpheus-und-Eurydike_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Es muss viele überraschen, dass die Wuppertaler diesen Vergleich für sich entscheiden können, zumindest bezogen auf die hier besprochene zweite Premiere.

Zum Einen, weil das Sinfonieorchester Wuppertal mit dem Opernchor der Wuppertaler Bühnen unter der Leitung von Michael Hofstetter auf absolutem Top-Niveau musizieren und singen und damit den Klangraum erzeugen, in der Glucks Oper ihre Magie entwickeln kann. Auf hohem internationalen Niveau ebenfalls die Sängerinnen der hier besprochenen zweiten Premiere: Vero Miller als Orpheus, Ralitsa Ralinova als Eurydike und Maxi Sophie Mäder als Amor. Ihr Gesang, die Worte und ihre Anwesenheit bilden den Corpus und das Innere zugleich der Tanzenden, die als Schatten in der Unterwelt schweben. Ganz zu schweigen von Valer Sabadus, der den überwiegenden Teil der Aufführungen als Orpheus singt und dessen Countertenor in seinen besten Momenten eine Wirkung zu erzeugen vermag, wie sie in der Mythologie wohl dem Gesang und dem Lyraspiel just jenem Orpheus zugeschrieben wurde.

Zum anderen liegt es daran, dass die Tänzerinnen und Tänzer des Tanztheater Wuppertal die Sprache von Pina Bausch wie eine DNA in sich tragen. Dies gilt auch wenn Bauschs „Orpheus und Eurydike“ zu einem Zeitpunkt entstanden ist, an dem die Choreografin das Tanztheater, wie wir es von ihr kennen, erst noch erfinden musste. Und doch erscheint dieses bereits greifbar zu sein. Auch wenn die Bewegungssprache in dieser Arbeit noch deutliche Spuren des modern-dance à la Martha Graham in Reinform beinhaltet oder klassische Hebefiguren aus dem Ballett, so entwickelt Pina Bausch darin bereits über weite Strecken ihre wundervoll fliessenden Bewegungsfolgen, die in ihren späteren Werken nur noch in den Soli ihrer Tänzerinnen und Tänzer zu sehen sein werden..

 Tsai-Chin Yu, Reginald Lefebvre und Ensemble Copyright Evangelos Rodoulis

Tsai-Chin Yu, Reginald Lefebvre und Ensemble – Copyright Evangelos Rodoulis

Exzellentes Ensemble

Anders als das Corps de Ballet der Pariser Oper, das Bewegungen mit grosser Präzision zu multiplizieren und synchron wiederzugeben vermag, als sei jeder Körper das Duplikat eines anderen, vermitteln die Wuppertaler Tänzerinnen und Tänzer, bei aller Bewegungspräzision, die wuchtig und wirksam unsere Spiegelneuronen erreicht, ein atmendes Organ aus vielen Individuen. So entsteht Nähe und Identifikation, auch als Gruppe, aus der heraus sich immer wieder kurze Soli entwickeln können und dürfen.

So wie die Gesangsolistinnen vermögen im Tanz die wunderbar glaubhafte Luiza Braz Batista als Eurydike und Tsai-Wei Tien als jugendlich frischer Amor zu überzeugen. Naomi Brito als Orpheus ist einfach nur als herausragend zu bezeichnen, nicht nur, weil sie über eine grossartige Tanztechnik verfügt, sondern weil ihr Orpheus sie ist und in keinem Augenblick der Gefahr erliegt, Dominique Mercy zu kopieren, der diese Rolle kreiert und geprägt hat.

Pina Bausch ging es in ihrer Tanzoper nicht darum, den Mythos „Orpheus“ tänzerisch zu gestalten, wie er unter anderem von Ovid geprägt wurde, sondern es ging ihr um die mythische Gestalt „Orpheus“, die dadurch zu jedem von uns wird, wie das Programmheft so hervorragend vertieft, indem es aus Mariama Diagnes wunderbarem Buch „Schweres Schweben“ zitiert, das im letzten Jahr beim transcript-verlag erschienen ist und das sich mit den Qualitäten der Schwere bei Pina Bauschs „Orpheus und Eurydike“ beschäftigt.*

*Mariama Diagne – Schweres Schweben – Qualitäten der gravitas in Pina Bauschs Orpheus und Eurydike

Orpheus ist androgyn

Wenn für Pina Bausch jede und jeder „Orpheus“ ist, kann es dadurch auch keine Trennung in verschiedene Geschlechter mehr geben. Für die Choreografin geht es vielmehr um die Liebe als solche, um deren Verlust, Misstrauen, Leid. Es geht darin auch um Geheimnis, Verzweiflung, Wehrlosigkeit. Und es geht um das Loslassen können.

 Nicholas Losada, Oleg Stepanov, Reginald Levebvre, Daria Pavlenko, Taylor Drury Copyright Heinrich Brinkmöller-Becker

Nicholas Losada, Oleg Stepanov, Reginald Levebvre,  Taylor Drury – Copyright Heinrich Brinkmöller-Becker

Wahrheit, – vielleicht?

Bei Pina Bausch gibt es kein Happy End, so wie es auch keine Ouvertüre gibt. Sie beginnt mitten im Leid des Verlusts einer geliebten Person gegen den sich ihr Orpheus, also wir, über mehr als zwei Stunden hinweg vergeblich stemmen werden.

Trauer, Gewalt, Friede, Tod, in diese vier Tableaus hat Pina Bausch die drei Akte der Gluck-Oper in ihrer Inszenierung unterteilt und Rolf Borzik hat ihr dazu die eindrucksvolle Szenografie geschaffen, die im Tod nur noch nackte, steile, weisse Wände kennt – Wahrheit vielleicht?

Anders als bei William Forsythe, der dieses Thema, als sein erstes abendfüllendes Ballett, nur vier Jahre später mit dem Stuttgarter Ballett ebenfalls aufgriff und die Unterwelt als das Innere einer Irrenanstalt inszenierte, in der es kein Erkennen, sondern nur noch Verzweiflung gab, erscheint diese Welt bei Pina Bausch im Dritten Bild mit dem Titel „Frieden“ als ein Ort möglicher Harmonie, aus dem Orpheus Eurydike zurück holen will. Doch wohin?

Der Schrecken des Todes liegt bei Pina Bausch allenfalls im Übergang vom Leben in den Tod. Gewalt nennt sie dieses zweite Bild, das bestimmt wird durch die Darstellung des Zerberus, dem dreiköpfigen Höllenhund, der in der Mythologie darüber zu wachen hatte, dass kein Lebender das Totenreich betritt und kein Toter es verlassen kann. Bei Bausch verkörpern Diesen drei Gestalten in schweren Metzgerschürzen, die sich um die „neu eingetroffenen Toten kümmern“ oder diejenigen zerreissen, die keinen Zutritt zum Elysium finden, dem Ort der Seligen, weil sie an ihren Leben und Lasten daraus hängen, wie an den Fäden, die die Choreografin sie wie ein Labyrinth spinnen lässt, die an Türme aus riesigen Hochstühlen geknüpft sind, die vielleicht die Lebensziele der Verstorbenen symbolisieren. Dreimal benutzen dabei die Metzgerschürzen-Träger eine Symbolik, die an Anubis erinnert, den alt-ägyptischen Gott, der die Toten geleitete. Eine Symbolik, die Pina Bausch fast dreissig Jahre später in ihrem grossartigen Stück „Ten Chi“ (Himmel und Erde) wieder aufgreifen wird, in dem sie sich erneut mit dem Tod beschäftigt.

Emma Barrowman. Nicholas Losada copyright Oliver Look

Emma Barrowman. Nicholas Losada copyright Oliver Look

Der Maßstab ist das lebendige Werk einer großen Künstlerin

Begeisternd zu sehen, mit wieviel Freude und Können das Ensemble (verstärkt um 11 tanzende Gäste) dieses frühe Werk der Choreografin zu tanzen und zu interpretieren vermag. Es stimmt hoffnungsfroh, wie kompetent die Weitergabe dieser Exzellenz durch Ensemblemitglieder früherer Generationen funktioniert, die dieses Werk mit kreiert haben. Faszinierend zu sehen und zu erleben, welch hohes internationales künstlerisches Können hier in Wuppertal versammelt und abrufbar ist, wenn Mut und Vision dafür vorhanden sind, auch wenn es des Anstosses dazu, wie hier, gelegentlich von Aussen bedarf.

Orpheus mit Naomi Brito als Frau und Transgender zu besetzen, erweist sich als geglückte Idee. Sie ist nicht nur eine ganz herausragende Tänzerin von Weltniveau, sondern sie vermag das Publikum an diesem Abend zutiefst zu berühren. Liebe existiere nicht ohne Schmerz und Leid und in Wahrheit ist Eurydike nicht tot, sondern in Orpheus gestorben, so die Choreografin.

Naomi Brito macht diesen Schmerz erfahrbar.

Erst zum langanhaltenden Applaus und Standing Ovations wird das Publikum gewahr werden, wie verletzlich und entblösst Brito diese Rolle angenommen hatte: für die Entgegennahme des Applaus hat sie sich ein T-Shirt angezogen, um ihren Nacktheit zu verhüllen.

*Choreographie: Pina Bausch – Bühne / Kostüme / Licht: Rolf Borzik – Orpheus: Naomi Brito (Tanz) – Valer Sabadus (Countertenor) | Vero Miller (Mezzosopran) – Eurydike: Luiza Braz Batista (Tanz) – Ralitsa Ralinova (Sopran) – Amor: Tsai-Wei Tien (Tanz) – Anna Christin Sayn (Sopran – Tanz: Emma Barrowman. Dean Biosca, Emily Castelli, Maria Giovanna Delle Donne, Taylor Drury, Yosuke Kusano, Reginald Lefebvre, Alexander López Guerra, Nicholas Losada, Blanca Noguerol Ramírez, Claudia Ortiz Arraiza, Eva Pageix, Darko Radosavljev, Pierandrea Rosato, Reika Shirasaka, Ekaterina Shushakova, Oleg Stepanov, Christopher Tandy, Sara Valenti, Tsai-Chin Yu – Musikalische Leitung: Michael Hofstetter – Das Sinfonieorchester Wuppertal und der Opernchor der Wuppertaler Bühnen

Probenleitung Neueinstudierung 2022: Josephine Ann Endicott – Proben Sänger*innen Bénédicte Billiet – Assistenz Çağdaş Ermiş – Mitarbeit Proben: Rainer Behr, Dominique Mercy, Barbara Kaufmann, Julie Shanahan, Julie Anne Stanzak

Luiza Braz Batista, Naomi Brito copyright Oliver Look

Luiza Braz Batista, Naomi Brito copyright Oliver Look