ATLAS | STUDIES…
…einer der Höhepunkte von INTO THE FIELDS 2024
INTO THE FIELDS 2024
ATLAS / STUDIES
Klare Signaturen der choreografischen Skizzen und starke Performer zeichnen die ATLAS STUDIES von Michèle Murray als einen Höhepunkt des kleinen Bonner Tanzfestivals aus
gesehen von Klaus Dilger
Was erzählen Körper über unsere Zeit und wie? Dieser Frage ging die französisch-amerikanische Choreografin Michèle Murray vor einigen Jahren nach und schuf die Atlas / Studies – eine Serie kurzer Stücke, vergleichbar mit Skizzen aus der bildenden Kunst oder Musik. Ohne Anfang oder Ende erzeugen sie Momentaufnahmen des menschlichen Körpers und bewegen sich zwischen Narration, Abstraktion und Figuration. Mit großem Erfindungsreichtum und spielerischer Intelligenz präsentieren sie Bewegungsmaterialien, die aus unserem gemeinsamen kulturellen „Bilderfundus“ schöpfen, und lassen bemerkenswert prägnant Stimmungen, Energien oder Assoziationen zu Handlungen und Geschichten entstehen. Jede Studie zeichnet dabei ein komplett neues Muster aus Konstellationen, Beziehungen und emotionalen Grundeinstellungen und liefert Anhaltspunkte dafür, wie wir uns mit der Welt verbinden.
Jede der Studien ist von erstaunlicher Klarheit – durch die Konzentration auf ein bestimmtes Bewegungsmaterial sowie eine spezifische Nutzung von Raum und Zeit. Obwohl alle Studien einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen, ist die Essenz der gezeigten Körperbilder doch sehr greifbar. Mit jeder neuen Studie werden die Karten neu gemischt, so entsteht ein sehr kurzweiliger, höchst spannender Abend
DIESES ZITAT…
…aus dem Programmheft ist deshalb bemerkenswert, weil es, anders als in den meisten seiner Art, keine „Antragslyrik“ oder das mehr oder weniger gelungene Wunschdenken der Künstler_innen oder deren Dramaturg_innen wiedergibt, sondern erstaunlich treffend einen Gesichtspunkt dessen beschreibt, was die Besucher erwarten dürfen, wenn sie sich darauf einlassen wollen.
Hierfür gebührt an dieser Stelle dem Veranstalter dieses kleinen Bonner Tanzfestivals „INTO THE FIELDS“ Dank und Respekt, denn darin spiegelt sich auch eine verantwortliche Haltung gegenüber dem Tanzpublikum wieder, das, wie mancherorts zu beobachten, auch leicht verloren gehen kann, wenn es allzu oft Unverständnis und Enttäuschungen erfährt. Hier jedoch entsteht in schöner Regelmäßigkeit eine Art Initiation und der Versuch zu disponieren, all dies im besten Wortsinn.
Choreografie ist Raumkunst
Anders als in der bildenden Kunst, sind choreografische Skizzen keine zweidimensionalen „Blätter“, die für jeden Betrachtenden unter ähnlichen Prämissen stattfinden, sondern sie leben im Raum, ähnlich wie musikalische Skizzen, auch in den inneren Räumen und deren Resonanzfähigkeiten. Und, die Skizzen müssen von den Schöpfern an Interpret_innen weitergegeben werden und sind darin in ihrer Wirkung vollkommen abhängig von deren Können und deren Fähigkeiten, diese Skizzen stets neu lebendig werden zu lassen.
Starkes Ensemble
Hier hat sich die französisch-amerikanische Choreografin Michèle Murray, die in Montpellier lebt und arbeitet, im Lauf der Jahre und kontinuierlicher Zusammenarbeit eine ganze Reihe an Interpret_innen herangebildet, die in unterschiedlichen Konstellationen, raum- und ortsspezifisch, die ATLAS | STUDIES, von denen es bisher insgesamt zehn gibt, neu zusammenfügen. Dadurch entsteht eine immer neue Dramaturgie der jeweiligen Aufführungen. An diesem Abend, im Bonner Theater im Ballsaal, waren es fünf der zehn Skizzen, denen jeweils ein ganz eigener Impuls zu Grunde lag, eine sich stets unterscheidende Dynamik und Spannung, die weitergedacht, einem Gesamtwerk jeweils eine vollkommen unterschiedliche Richtung zu geben vermag. Interpretiert wurden diese von einem Ensemble auf zuverlässig hohem Niveau.
Dramaturgie des Abends
Die insgesamt drei Tänzerinnen und drei Tänzer erlauben der Choreografin eine Vielzahl an Konstellationen, die jedoch stets mit einem leeren, hell erleuchteten Raum beginnen und enden. Mit diesem einfachen Prinzip schafft die Künstlerin das Element des Kreises, das sie gelegentlich auch ganz direkt überträgt, wie etwa in der Studie #4, der emotional am stärksten aufgeladenen Skizze, bei der die vier Interpreten zu Beginn und zum Ende die exakt gleichen Raumpositionen einnehmen. (What goes up must come down). So besteht der Abend aus einem Quartett, zwei aufeinander folgenden Duos, einem Quartett und endet mit einem Trio, der zwar technisch vielleicht am „besten“ getanzten Studie, das aber eckig, kantig und konstruiert wirkte, vielleicht auch, weil in diesem zu sehr Merce Cunningham die Handschrift von Michèle Murray überlagerte, bei dem sie in New York studiert hatte. Vielleicht aber wollte die Choreografin das, in Study#4 aufkommende, narrative Element wieder neutralisieren, was erst im Nachklang der Betrachtung des Abends stimmig erscheint.
Jeder erlebt andere Studien im Raum
Dass jeder Besucher, abhängig von seinem Betrachtungswinkel, diese ATLAS | STUDIES anders erlebt, wird besonders deutlich durch das Auge der Kamera, wenn sie nicht gerade mittig platziert ist. Murray entwickelt in ihren STUDIEN, wenn sie in einem Theatersaal aufgeführt werden, eine starke Dynamik aus der Diagonalen heraus und der direkten „Attacke“ auf das Publikum zu.
Die jeweilige Skizze entsteht so in jedem Betrachter anders und sie entsteht durch den Betrachter im Raum.
FAZIT
Ein spannender, hochwertiger Abend zum beinahe Abschluss der 2024-Ausgabe des INTO THE FIELDS Festivals in Bonn. Hier unsere Kurzdokumentation: