„IF IT WERE LOVE“

…Deutschlandpremiere

Regisseur Patric Chiha über „IF IT WERE LOVE“

Wenn man bei einem Dokumentarfilm Regie führt, stellt man sich in der Regel als erstes die Frage nach dem Thema. Worum geht es in dem Film? Meistens antworte ich, dass es um nichts oder alles geht. Das ist natürlich eine Übertreibung, aber ich denke, es trifft auf alle Filme zu, die ich liebe: Sie gehen über ihr Thema hinaus. Nicht, weil sie es geschickt unter einer ausgeklügelten Form oder einer Exzentrik begraben haben, sondern weil sie vor allem Gesichtern, Bewegungen, Orten, Licht oder Ton vertrauen… Dann erscheint das eigentliche Thema. Ich glaube, das gilt erst recht, wenn man den Tanz auf Film bannt: Man kann nicht von der Bedeutung, vom Sinn des Ganzen ausgehen, man geht von der Bewegung aus – wie die Brüder Lumière, als sie einen in einen Bahnhof einfahrenden Zug filmten – und dann wartet man geduldig, bis der Sinn erscheint…

Crowd, das außergewöhnliche Theaterstück von Gisèle Vienne, steht im Mittelpunkt des Films. Es hinterfragt auf großartige Weise den Akt des Feierns, der Liebe und wie unsere Emotionen unsere Wahrnehmung der Zeit verändern. Fast alles, was man im Film sieht, stammt aus dem Stück. Aber warum dieser Film? Gisèle und die Art und Weise, wie sie arbeitet, vor allem mit den Tänzern, hat mich viel über meine Beziehung zu meinem eigenen Handwerk gelehrt: ihre Art und Weise, dem Körper eine Bedeutung zu geben, wenn man sich entschließt, sich hinzugeben, sich selbst zu vergessen, wie sie es ermöglicht, dass das Unerwartete auftaucht, aber auch, dass man das Leben sieht. Beim Film „dirigieren“ wir die Schauspieler, aber ist es nicht genau umgekehrt? Machen wir nicht gerade deshalb Filme, weil wir etwas vermissen? Etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt? Und ist es nicht dasselbe mit dem Publikum? Sind wir nicht alle darauf aus, uns zu verlieren, anstatt uns in etwas bestätigt zu fühlen?

10 Jahre TANZRAUSCHEN…

… statt den eigenen Geburtstag allein zu feiern, zog es den Bundestagsabgeordneten und Schirmherren von TANZRAUSCHEN ins Wuppertaler REX Kino, um den Freudentag zusammen mit den zahlreich erschienenen Gästen zu begehen, die „IF IT WERE LOVE“ erstmals ausserhalb von Festivalreihen, live im Kino miterleben wollten…

IF IT WERE LOVE

Gisèle Vienne’s CROWD wird in Patric Chihas Film zu einem spannenden Zeitdokument

Gisèle Vienne war mit ihrer (wenig überzeugenden) Produktion „EXTRA LIFE“ zur vergangenen Ruhrtriennale eingeladen (wir berichteten). Umso gespannter durften wir auf den Film über eines ihrer älteren Werke, „CROWD“ aus dem Jahr 2017 sein, denn von irgendwo oder irgend etwas musste sich der Hype um die österreichisch-französische Regisseurin ja nähren.

Um es abzukürzen: eine Antwort hierauf lieferte „IF IT WERE LOVE“ nicht. Vielmehr machte Patric Chihas, keineswegs dokumentarischer, sondern genuin eigenständig künstlerischer Film deutlich, weshalb Gisèle Vienne’s CROWD, trotz zahlreicher Gastspieleinladungen, als Bühnenstück kaum, wohl aber in dieser Kunstform wird tragen können. Vienne hatte in einem Interview einmal gesagt, dass sie ihr Stück sieht wie fünfzehn verschiedene Tonspuren, die alle übereinander gelagert seien und erst durch die Modulation der Lautstärke als Geschichten heraustreten könnten.

Der Film beginnt mit einer typischen Backstage-Situation: Die Performerinnen und Performer sind geschminkt und tragen ihre Kostüme. Ein Bühnenhelfer wartet in den Gassen, die im Theater „wings“, also Flügel genannt werden, um sie einzeln mit einer fein zerstäubten Flüssigkeit aus dem manuellen Hochdruckbehältnis zu besprühen. Dieser feine Wasser?film soll ihnen vermutlich ein durchschwitztes Aussehen verleihen, mutet aber auch an wie der Versuch, fast schon ein Ritual, um jedes der Individuen durch (s)eine persönliche Desinfektion zu schützen. Die Tänzerinnen und Tänzer sind konzentriert, teils im jeweiligen Tunnel vor dem Auftritt versunken, andere wechseln noch ein paar Worte mit dem Kollegen oder der Kollegin, dann verwischt sich das Bild an einer dunklen Grenzen, ehe sie…, ja was eigentlich?

Der Film vermeidet es, den Schritt auf die, besser auf eine Bühne zu zeigen, vielmehr beobachtet er in der folgenden Einstellung sehr lange Minuten die fünfzehn Protagonisten, the CROWD, wie sie sich in verlangsamter Form zu Techno-Beats bewegen, sich in Slow Motion berühren, sich entfernen, wieder angezogen werden, voneinander, vom mit Erde bedeckten Boden.

„Slower“, „Feel the ground, feel the weight“, „Yes, nice, … very nice“. Gisèle Vienne dirigiert das Geschehen mit sanfter Stimme und Mikrofon, greift ein, greift zu, berührt ihre Tänzer und Tänzerinnen, wird Mitwirkende, wenn ihr die körperlichen Annäherungen nicht intensiv genug erscheinen.

Ein Tänzer ist ausgestiegen, erklärt, dass er Abstand brauche, ihm die Gefühle zu viel geworden seien, er reflektieren müsse. Vienne überhört das, wohl ganz bewusst, bedrängt ihn, legt ihm Hand auf die Brust, berührt ihn, intensiv, spricht, drängt sich weiter und wieder an ihn, erklärt, berührt…

Grenzen überschreiten,…

…spielen damit und mit der Gefahr, zu weit zu gehen.

Die Gruppe bewegt sich immer weiter, Slow Motion zu 138BpM, plötzliche Eruptionen, wahnsinnig schnelle Bewegungsabfolgen auf engstem Raum, Aggressionen einzelner Individuen oder sind es Kampfrituale in einem fiktiven Club? Ist das noch Probe, ist das überhaupt eine Probe oder befinden wir uns nicht längst schon in der Performance? Intensive Großaufnahmen, Gesten, Blicke, Körpersprache, verleihen dem Geschehen Spannung und dem Raum Architektur.

Cut. Eine Maskenbildnerin, die eigentlich ebenfalls Tänzerin ist, versucht einem Kollegen, einer Kollegin, ein Tattoo zu stempeln und nachzuzeichnen. Sie plaudern, vertraut, locker, wir erfahren ihre Namen, die Flirts, die Abenteuer der letzten Nacht, wie und ob sich Partnerin oder Partner dabei betrogen fühlen, durch und mit den Ritualen der Nacht. Sie sprechen über Gefühle, ihre eigenen, die der anderen und dies alles mit grosser Behut- und Achtsamkeit. Wir werden als Zuschauende mit einbezogen in die Tiefe der Gefühle und Gedanken von Philip (Berlin), Marine (Chesnais), Kerstin (Daley-Baradel), Sylvain (Decloitre), Sophie (Demeyer), Vincent (Dupuy), Massimo (Fusco,) Nuria (Guiu Sagarra), Rehin (Hollant), Antoine (Horde), Georges (Labbat), Theo (Livesey), Louise (Perming), Katia (Petrowick), Richard (Pierre), Anja (Röttgerkamp), Jonathan (Schatz), Gisèle (Vienne), Henrietta (Wallberg), Tyra (Wigg) und Oskar (Landström), der als „Nazi-Oskar“ die einzige Person des Films bleiben wird, der eine Rolle erkennbar zugewiesen wird.

Vielleicht gerade,…

weil damit eine Fallhöhe erzeugt wird, wenn er über seine Liebe zu einem schwulen Mann spricht und dies mit einer berührenden, beinahe atemberaubenden Tiefe und Sensibilität, wie sie die wenigsten im Zuschauerraum des Films bisher gehört haben dürften.

Den Wechsel zwischen Slow-Motion-Ritualen, Stakkato artigen Bewegungsausbrüche, Dialogen und Monologen behält der Film die ganzen 80 Minuten bei. Jede und Jeder tritt so mit seinem, ihrem Leben aus der Menge, der CROWD, heraus, wird greif- und begreifbar.

Doch die scheinbaren Wechsel zwischen den Grenzen des Spiels, der Performance, und dem Leben seiner Darstellerinnen und Darsteller, entpuppt sich nach und nach als Finte: Alle Figuren hat Gisèle Vienne zusammen mit den Tänzerinnen und Tänzern sowie dem US-amerikanischen Autor Dennis Cooper komplett ausgearbeitet.

Diese Erkenntnis ist faszinierend und erschütternd zugleich, legt sie doch unser aller Verführbarkeit bloß. Sie unterstreicht aber auch eine herausragende Leistung und Qualität aller Beteiligten.

Ab März kommenden Jahres findet der vielfach ausgezeichnete (Tanz)Film aus dem Jahr 2020 endlich seinen Weg in die deutschen Kinos, dem Wuppertaler Verleih IMMERguteFILME sei Dank.

AFTERTALK…

…Tanzrauschen e.V. zeigte den Film im Rahmen seiner 10jährigen Bestehensfeier im Wuppertaler REX mit anschliessender Gesprächsrunde und den Podiumsgästen SOPHIE DEMEYER / Performerin CROWD, Julie Shanahan / Tänzerin und Performerin. Barbara Kaufmann / Tänzerin und Performerin, Moderation Nelly Kösterr…

credits

Interview auf tanzrauschen.de

Besprechung und Kamera: Klaus Dilger

Editing und Gestaltung: DANSEmedia | berlin

alle Fotos ©If It Was Love_Patric Chiha

Ab März 2024 –

In den Kinos in Deutschland!