schrit_tmacher justdance! Festival in Heerlen:

Der Ruf des Abgrunds

Zuversicht, trotz allem: Niek Wagenaars „After All“ findet unter freiem Himmel statt. Eine Unwetterböe verleiht dem Geschehen zusätzliche Kraft.

Von: Harff-Peter Schönherr

Parkhäuser überraschen meist nicht. Was sich in ihnen abspielt, ist klar: Sie beherbergen Autos, Etage um Etage.

Das ist auch beim Q-Park Putgraaf im niederländischen Heerlen so: Autos, eng an eng. Aber dann, ganz oben auf dem Dach, auf Etage 7, ist plötzlich alles anders. Autos, die Feinde der Natur, haben hier zwar noch eine Zufahrt, aus vergangenen Tagen, aber keinen Zugang mehr: Das Dach ist ein Garten. Willkommen im „Heerlen Rooftop Project“.

Recycling-Pflanzkästen reihen sich an der Brüstung, viel Immergrün in ihnen. 150 weitere stehen für Urban Gardening bereit. Schubkarren warten zwischen ihnen auf den Frühling, Rankhilfen in Bündeln. „Wildnis“ steht auf einem der Beete. Daneben wächst, wenn es wärmer wird, Schnittlauch, blühen Trompetenblumen.

Und nicht nur die Natur bündelt hier ihre Kräfte gegen den motorisierten Individualverkehr, auch die Kultur. Niek Wagenaars kühne Choreografie „After All“ ist ein Teil davon. Es geht um Umweltzerstörung und Endzeitängste. Es geht um die Wohltat, nicht allein zu sein.

Auf einem Sackstapel Pflanzenerde kauert eine junge Frau, in rotem Kleid. Sie steht auf, taumelnd, orientierungslos, reibt sich Erde in die Augen, über die Arme, über ihr Kleid, wie trauernd, deutet zum Himmel hinauf, ungläubig. Aus ihrem Taumeln wird, zunächst ganz unmerklich, ein Tanzen. Den Kopfhörern, die den Zuschauern auf dem Parkdeck die Freiheit geben, sich ihre Blickwinkel selbst zu suchen, entströmt Psychedelisches.

after-all©tanzweb.org_klaus-dilger

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Die junge Frau wirkt scheu, panzert sich gegen eine Welt, deren Wandel ihr Angst macht. Drei Fremde kommen hinzu, und Anziehung beginnt, Annäherung, Abwehr. Blicke verschränken sich, Hände. Kampf entbrennt, weicht der Ruhe. Man umkreist einander, umarmt einander, jagt einander, stützt einander, flieht voreinander. Körper rammen sich in Erdhaufen und Pflanzenreste, Münder weiten sich zu stummen Schreien der Verzweiflung.

Lange liegt die junge Frau auf dem Boden, reglos, wie tot. Lange betrachtet einer der Fremden den Horizont, reißt sich nur schwer vom Abgrund zurück, der seine Qual beenden würde. Introspektiv ist das, eine Seelenschau. Intens ist das, hochsensibel.

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Es ist eisig hier oben, der Wind fährt jäh durchs dürre Geäst. Sohlen schrammen über den Boden, Dreck spritzt. Die junge Frau rollt eine Betonrampe herab. Was hier geschieht, nahe des Himmels, der sich den Menschen versagt, rührt an, bewegt.

Und dann geschieht es: Während die Vier mit ihren inneren Dämonen ringen, türmt sich eine Wolkenbank auf, setzt kalter Regen ein, dann Hagel, in schweren Böen. Die dünne Kleidung der Darsteller klebt an ihren Körpern, ihre Füße stehen in Wasserlachen. Eine Tortur muss das sein, aber zur Stimmung und Aussage der Inszenierung passt es perfekt. Minuten später, die Dämonen haben ihre Macht verbraucht, die Mienen der Vier beginnen sich zu lösen, dann das zweite kleine Wunder: Die Sonne bricht durch, blendend hell.

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Das Wetter wird dadurch ungeahnt zum fünften Akteur. Der Ort selbst, mit seiner Weite, mit seinem Heilung verheißenden Blick auf die waldigen Kuppen am Rande der Stadt, ist der sechste. Beider Rolle in Wagenaars Stück über Verwundung und Vereinzelung, über Glückshoffnung und Gemeinsamkeit, ist nicht zu unterschätzen.

Am Ende sitzt die Frau im roten Kleid wieder dort, wo alles seinen Anfang nahm. Kein Taumeln mehr; ihr Blick hat sich enttrübt. Die drei Fremden sind zu Freunden geworden. Alle gemeinsam schauen sie empor. Dort ist es hell. Das Abenteuer Dasein ist kein Alptraum mehr.

Der Tanz, den das Dach der Stadt hier erlebt, ist ein Tanz des Lebens. Der Alltag, zu dem wir danach hinabsteigen, kann uns nichts mehr anhaben.

Parkhäuser können überraschen. Sehr.

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