Das Schrit_tmacher Festival Generation2 in Kerkrade:

Aufbruch in die Freiheit

Der Wahrheit auf der Spur: In „Pinocchio Effect“ zeigt uns Cecilia Moisio den Wert der Authentizität. Mit dem Maas Theater en Dans und dem Scapino Ballet ermutigt sie Kids, zu sein wie sie sind, gegen jede Fremdbestimmung.

Von: Harff-Peter Schönherr

Mit der „allerschlechtesten Vorstellung der Welt“ zu werben, ist mutig. Wer so etwas tut, ist besser richtig gut. Ist er es nicht, kann sich kein Rezensent eine bessere Steilvorlage wünschen: Whamm! Versenkt!

Cecilia Moisio ist mutig. An ihrer Seite das Maas Theater en Dans und das Scapino Ballet, beide aus Rotterdam, Niederlande, geht sie in „Pinocchio Effect“ ein multiples Wagnis ein: Schrille Komik durchwebt beklemmenden Ernst, Schauspiel, Video, Text und Gesang marginalisieren beinahe den Tanz, sehnsuchtsvolle Hoffnungshelligkeit ficht gegen alptraumhafte Düsternis, und die Zielgruppe sind zwar Kinder, aber auch Erwachsene sollen sich hinterfragen.

Allein schon der Rückgriff auf Carlo Collodis Schnitzfigur aus Kiefernholz, die zum Menschsein erwacht und deren Nase bei jeder Lüge länger wird, setzt inszenatorisches Selbstbewusstsein voraus. Wer Collodis Figur kennt, erwartet einen Kommentar zu den höchst fragwürdigen Erziehungsmethoden des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und um sie geht es Moisio nicht. Wer Collodis Figur nicht kennt, wie sicher viele der Tiktok- und Fortnite-Generation, an die sich die Produktion richtet, runzelt vielleicht bereits beim Titel die Stirn.

PINOCCHIO-EFFECT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Wer die 400 Kids beobachtet, die „Pinocchio Effect“ am 22. Februar im Theater Kerkrade erleben, in den Niederlanden, aufmerksam, engagiert und fasziniert, merkt jedoch schnell: Alldas ist kein Problem. Moisios Plot ist weit genug von Collodi entfernt, um nicht museal zu wirken; zudem wird oft noch heute so übergriffig erzogen wie damals. Und das Thema, das Moisio hier gewohnt psychologisch verhandelt, ist so zeitlos wie universalverständlich: Die Lüge, als ein „Verhalten, das wir alle kennen“, das Wachsen der Nase, dient ihr als Symbol, als Sinnbild, für die Folgen von Schuldgefühl und Selbstbetrug, von unwidersprochen wirkmächtigen Tabus, von toxischer Dominanz.

Es beginnt mit einem langen Tisch, Mikrophone darauf. Gesetz auf Gesetz wird verkündet, druckvoll und demagogisch. Das Ensemble, betont formell gekleidet, zeigt Zynismus, Machtgier und Kälte. Gesetz 1 ist natürlich: Du darfst nicht lügen! Und dann wird es absurder und absurder. Gesetz 10: Mädchen müssen immer lächeln. Gesetz 19: Du darfst nicht selbst denken, eine andere Meinung als unsere sorgt für Verwirrung. Gesetz 26: Kinder werden nicht ernst genommen.

Die Kinder in Kerkrade identifizieren sich sofort. Widerspruch brandet auf. Gegen Manipulatoren, lernen sie, hilft nur Auflehnung.

PINOCCHIO-EFFECT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Eigentlich beginnt „Pinocchio Effect“ schon im Foyer. Die Versorgungsleitungen unter der Decke liegen hier offen zutage; manche Betonstruktur, bei der Modernisierung übernommen aus dem Altbau, zeigt, wie in einer Wunde, ihre Stahlbewehrung. Das signalisiert: Dies ist ein Ort, um  hinter Fassaden zu blicken.

Auf der Bühne entsteht ein Haus, eine Wohnung. Enge teilt sich mit, Kleinbürgerlichkeit. Wir sind in den 1950ern, beobachten eine Familie, die Eltern, ihre Kinder. Niemand, der hier keine Fassaden errichtet, emotional und gedanklich. Niemand, der hier keine Wünsche und Träume verbirgt, keine Wirklichkeiten vorspiegelt, die nicht für alle gelten. Unmerklich wird das Gebäude durchlässiger, in das wir hineinsehen wie in einen Laborversuch, in dem die Familie exemplarisch ist für die Gesellschaft. Personen durchdringen Wände und Decken. Unter ihnen, vermummt, eine mahnende Schreckensgestalt, vielleicht ist es der Tod.

Eine Abwärtsspirale allseitiger Verzweiflung, Deformierung und Agonie beginnt. Am Ende, alle sind gealtert, erwachsen, lösen sich die Wände und Decken gänzlich auf, alles Mobiliar verschwindet, und das qualvolle Festmahl, mit dem Moisio uns entlässt, ist ein Schlachtfeld auf nackter Bühne.

Zuvor sehen wir ein Haus, in dem jeder seinen Geheimraum hat. Mit einem Vater, der seine Kinder abweist, der trinkt, straft, anschreit, einschüchtert, die Hand erhebt. Einmal geht er auf der Toilette, dem Ort für die tabuisiertesten aller Tabus, hektisch fremd. Die Mutter ist verbittert, ihr Aufbegehren verkümmert. Die Kinder scheitern an ihren Eltern. So gut sie können, leben sie sich aus, spielen Gitarre, lesen Bücher, immer in Angst vor Entdeckung. Aber sie wahren den Schein, stützen die Fassade. Je älter sie werden, desto härter wird das Geschehen.

Es gibt Gänsehautmomente in „Pinocchio Effect“. „What if I say I’m not like the others?“, hören wir von den Foo Fighters. „What if I say I will never surrender?“ Stark ist das. Und unendlich traurig zugleich. Die Rebellion verliert, und verliert, und verliert. Bis sie zu gewinnen beginnt, aber das geschieht erst ganz zum Schluss.

Das Geschehen ist facettenreich und stets brüchig. Es verlangt den Kids viel ab. Auch die Offenheit für eine Bewegungssprache, die gewöhnungsbedürftig ist. Hochpräzise ist sie, extrem stilisiert, extrem reduziert. Das Raumgefühl der Tanzenden ist traumwandlerisch, jede Geste ist klar umrissen, jede Mimik wie gemeißelt. Zuweilen verharren Darstellende lange im Freeze, zuweilen wechseln sie zur Slowmotion. Tänzerisch ist das hochklassig.

PINOCCHIO-EFFECT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Indes: Tanz ist rar. Verblüffend rar. Unerwartbar rar. Erst am Ende, zur großen Befreiungszene, gewährt Moisio ihm Raum. Bis dahin dominiert der Text. Er diskutiert alle Aspekte des Lügens, auch den der Rache, der Besänftigung, der Angst. Streckenweise klingt das wie ein Lehrstück, aber dessen Lebendigkeit ist groß. Was wir auch lernen? Dass die Nase juckt, wenn wir lügen. Ob das nun stimmt oder nicht.

Die Inszenierung zieht alle Register. Farblicht kommt suggestiv zum Einsatz, von Türkis bis Pink. Soundfiles ziehen Zusatzebenen ein, vom Telefontastenton bis zum Vogelgurren. Videos zeigen Alternativperspektiven, blenden flankierende Darsteller ein, kommentieren. Intensiv und freudevoll interagiert das Ensemble mit den Zuschauenden, und das nicht nur, wenn zwischendrin das Licht im Saal angeht und die Grenze zwischen Bühne und Publikum verschwimmt.

Die Reaktion der Kids ist oft überdeutlich. Sie sind erschrocken und empört, wenn der Vater zur Gewalt greift. Sie sind erstaunt und belustigt, wenn bei der demonstrativen (Kostüm-)Nacktheit der beiden fetten Kaiser Phalli baumeln, während sie einander mit mannsgroßen Aufblas-Bananen bekämpfen. Ja, die Machthaber sind nackt. Macht, lernen wir, kleidet den Menschen nicht.

PINOCCHIO-EFFECT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Die Familie, deren Zerfall wir erleben, zerfrisst sich selbst. Mutter weint. Vater sprengt eine Party, konfisziert eine Gitarre. Die Kinder halten sich die Augen zu, werfen sich aufs Bett, schlagen mit den Köpfen gegen die Wand. Eine Vase zerschellt, ein Buch wird zerrissen, eine Flasche rollt über den Boden. Dazu, aus den Boxen, rhythmisches Klirren und Klicken, Wallen und Wummern, herzschlagartig. Knackige Rockbeats. Verstörend übersofte Easy-Musik, ein fast unertragbarer Kontrast zum zerstörten Dasein der Figuren. Klug ist das alles. Und es zeigt Wirkung.

Alle lügen. Die Eltern, weil sie denken, das ihre Kinder der Wahrheit nicht gewachsen sind, sie nicht verdienen. Die Kinder, damit das Familienleben ertragbar wird. Von Zeit zu Zeit fassen sich alle an die Nase. Halten sich Augen, Ohren und Mund zu: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Und der dunkle Schrecken geht von Raum zu Raum.

PINOCCHIO-EFFECT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Auch eine Traumsequenz der Mutter erlaubt keine Flucht aus der Wirklichkeit. Ein riesiger Geldschein hängt plötzlich im Raum, ein riesiger Lippenstift. Schräge, comicbunte Gestalten auf High Heels tanzen übersteigert fröhlich herein, mit irrwitzigen Turmfrisuren und Handtäschchen. Der Eskapismus ist nur von kurzer Dauer. Was droht, zeigt der Hintergrund: Eine wilde, archaische, abweisend schroffe Bergwelt in Blutrot.

Am Ende gibt es neue Gesetze. Sie heben die alten auf. Eines davon: Wenn du lügst, bist du kein schlechter Mensch. Ein anderes: Kinder werden ernst genommen.

Kinder ernst nehmen. Das tut auch Moisios 70-Minüter. Er tut es vorbildlich. Als verwundbare Individuen mit Freiheitsbedürfnissen und Fragen an die Zukunft, als mündige Theaterzuschauer.

Am Ende fallen Worte, die zu Tränen rühren: „Ich habe mich lange an eure Regeln gehalten.

Ich habe gelernt zu lügen. Ich habe gelernt, dass ich nicht so sein darf, wie ich bin. Jetzt weiß ich es besser. Ich habe gemerkt, dass die Welt größer ist als unser Wohnzimmer. Mir sind Flügel gewachsen, und ich bin geflogen.“ Wundervoll ist das.

Die „allerschlechteste Vorstellung der Welt“?  Definitiv ist das eine Lüge. Gut, es ist vielleicht nicht die allerbeste. Aber sie ist ziemlich nahe dran.

PINOCCHIO-EFFECT©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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