schrit_tmacher justDANCE! – Eröffnung in Eupen | B

Anatomie des Rollenspiels

Marina Cherry und Cie Un Loup pour l’Homme: Das schrit_tmacher-Festival wirft im Eupener Schlachthof einen Blick auf die Grenzen zwischen Tanz und Cirque Nouveau

Nachtkritik von Rico Stehfest

Eine Art Wechselbalg hier, die Idee von Ross und Reiter dort. Die künstlerische Offenheit im Programm des schrit_tmacher-Festivals macht es möglich, die konzeptionellen Ränder von Tanz zu entdecken und hat in Eupen zwei Arbeiten erlebbar gemacht, die tatsächlich beide nicht jedem im Publikum geschmeckt haben. Sowohl im Fall von Marina Cherrys Solo „Only Bones v.1.6“ als auch in dem berauschenden Duo „Cuir“ der französischen Company Un Loup pour l’Homme lag offene Begeisterung im Publikum direkt neben abwehrenden Reaktionen vereinzelter Zuschauer, die jeweils die Performance nicht bis zu deren Ende haben durchstehen wollen. Nicht jede Reaktion lässt sich nachvollziehen.

Ohne Kenntnisse der Hintergründe ließe sich aber schon Marina Cherry missverstehen. Die aus den USA stammende Kontorsionistin mit zirkusbasierter Ausbildung folgt mit ihrer Arbeit klaren Vorgaben. Das „Only Bones Project“, ursprünglich eine Idee des Neuseeländers Thomas „Thom“ Monckton, gibt für diese Art von Performance klare Kriterien vor. Unter der Prämisse des Physical Theatre zielt die Idee auf deutliche Reduziertheit ab. Erlaubt ist nur ein Scheinwerfer, kein Narrativ, keine Bühne, keine Requisiten, kein Text und alles innerhalb eines möglichst begrenzten Raumes. 

Marina-Cherry-USASWE-Only-Bones-v.1.6@TANZweb.org_Klaus-Dilger.

Marina-Cherry-USASWE-Only-Bones-v.1.6@TANZweb.org_Klaus-Dilger.

Das Ergebnis dieser Vorgaben macht aus der Performerin ein Wesen, das nur mehr entfernt an einen Menschen erinnert. Sie ist nur Gelenke, Glieder, eine verfremdete Groteske, bei der unklar ist, was Vorder- und was Rückseite sein mag. Schlabbrige Sounds aus den Lautsprechern bieten genau so wenig eine verlässliche Basis für eine Einordnung in irgendetwas Bekanntes. Und Marina Cherry lässt sich Zeit. Das Publikum soll sich gewöhnen an das Unerklärliche. Wie aber soll das möglich sein? Dieses Agieren auf der Stelle wirft unvermittelt die Frage auf, wohin sich die Arbeit entwickeln kann, ob ausreichende Variationen möglich sind, um über 45 Minuten zu tragen. Das bewusste Ausbleiben einer Dramaturgie macht es nicht gerade leicht. Und genau dann, wenn es zu befürchten gilt, dass nichts mehr hinzukommen könnte, wechselt die Lichtstimmung, wechseln die Sounds, wechseln die Bewegungsansätze komplett. Marina Cherry ist nicht nur ein fremdes Wesen, sie ist viele. Sie ist ein grotesker Mund ohne Augen oder Nase. Sie ist eine filmisch-epische Allegorie der verletzten Gläubigen. Als gehörte ihr Körper nicht ihr kippt alles in immer wieder unerwartete Richtungen. Ein befreiendes Jauchzen schrammt am Rand der Hysterie entlang. Sie lässt ihre Arme auf derart merkwürdige Weise rotieren, dass dieser Hubschrauber jeden Moment abzuheben scheint. Sie schafft es, die Anordnung ihrer Beine nicht mehr überblicken zu können und das Publikum glauben zu machen, sie hätte vier Hände. Die Hexe Marina Cherry macht, was sie will. Sie verführt, verwirrt und verblüfft, surreal verzerrte Mimik inklusive. Das Publikum bleibt dadurch ohne Boden unter den Füßen.

Marina-Cherry-USASWE-Only-Bones-v.1.6@TANZweb.org_Klaus-Dilger.

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Cie-Un-Loup-pour-lHomme-FR-CUIR@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Diesem Ausweichen durch das Mittel der Verfremdung setzen die beiden Performer Arno Ferrera und Gilles Polet der Cie Un Loup pour L’homme klare, maskuline Körperlichkeit entgegen. Ferrera, der für „Cuir“ auch die künstlerische Leitung übernommen hat, kommt aus dem Bereich des Physical Theatre. Gemeinsam mit Gilles Polet, der als Tänzer bereits für Jan Fabre in dessen „Mount Olympus“ zu erleben war, stellt er die Frage nach Macht und deren Ausübung wie auch deren Missbrauch innerhalb der Beziehung dieser beiden Männer. Dabei stecken beide in Lederharnessen, die ihrem Ursprung nach für Zugpferde konzipiert sind. Hier unterstreichen sie nicht nur das essenziell männliche Prinzip von Stärke. Mit mehreren Griffen versehen ermöglichen sie kunstfertiges Miteinander, Aufeinander und Aneinander, bei dem immer wieder das Individuum scheinbar auf seine Körperlichkeit reduziert erscheint. Ferrera tritt auf als das Ross, das den Reiter Polet auf den Schultern trägt. Das Machtgefälle zwischen Befehlsgeber und -empfänger ist unmissverständlich austariert, entpuppt sich allerdings schnell als ein funktionales Gebilde, das ein Spiel zeigt, in dem der Tausch der Rollen möglich ist. Machtgebaren kippt dadurch gerade nicht in Missbrauch um. Sichtbar wird das immer wieder durch akrobatische Ansätze der Equilibristik. Hier trägt einer des Anderen Last. Das Spiel mit Dressur und Kommandos ist ein Austesten der Möglichkeiten. Der Körper wird im doppelten Sinn zum Instrument der Kommunikation. Der Eine benötigt den Anderen, ohne dass Abhängigkeit entstünde. Dieses Miteinander ist ein Wollen, kein Müssen. Auch Aggressivität gerät so frei von bedrohlichen Zügen.

Cie-Un-Loup-pour-lHomme-FR-CUIR@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Bleibt der Kraftakt eine Zeit lang bloßes Ritual, bleibt allerdings auch die Aussage im Moment stecken. Eine dramaturgische Straffung hätte die Kehrseite dieses Spiels mit der Macht noch weiter herausarbeiten können. Das Aufbrechen der Rollen- und Machtverteilung erlaubt nämlich in aller Natürlichkeit ganz selbstredend zärtliche Momente der Nähe, die Berührung mit Sinnlichkeit aufladen, wo sonst das Funktionale des Miteinanders über weite Strecken im Vordergrund steht. Keine Stärke ohne Schwäche. 

Cie-Un-Loup-pour-lHomme-FR-CUIR@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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